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Von den Kirchenbesetzungen zu den Sans-Papiers-Anlaufstellen

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von Salvatore Pittà

Die Tradition antirassistischer Unterstützungsgruppen in der Schweiz ist alt. Sie geht zurück auf die Aufnahme politischer Flüchtlinge zu Bismarcks Zeiten, wurde am ehesten in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg thematisiert, erstreckt sich weiter über die Aufnahme von Ungarn-Flüchtlingen 1956 bis hin zu den heutigen Zeiten, in denen Unterstützende sich nicht nur rund um die Beratungsstellen organisieren, die in diesem Text vorgestellt werden.

Was die staatliche Migrationspolitik anbelangt, änderte sich um die Jahrtausendwende durch die bilateralen Abkommen mit der EU auch die Lage für Wanderarbeitende in der Schweiz grundsätzlich, denn seitdem werden EU-BürgerInnen SchweizerInnen weitgehend gleichgestellt. Durch die gleichzeitig umgesetzte Abschaffung des seit den 1970er Jahren existierenden Saisonniers-Statuts verloren etliche SüdosteuropäerInnen, aber auch TamilInnen, AfrikanerInnen und SüdamerikanerInnen innert kürzester Zeit faktisch jegliche Möglichkeit, in der Schweiz eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. Während für sie seitdem praktisch nur noch der Familiennachzug offen steht, versucht die eidgenössische Politik, nun auch diese Möglichkeit zu erschweren.

Kein Wunder also, dass sich Betroffene und Unterstützende um das Jahr 2000 herum zur Bewegung der Sans-Papiers zusammenfanden und mittels Petitionen, Kirchenbesetzungen, Demonstrationen und politischem Lobbying eine kollektive Regularisierung der Sans-Papiers forderten, die es ja in der Schweiz im Unterschied zu vielen anderen europäischen Ländern nie gegeben hat. Die Antwort der Politik auf diese Forderungen war ein kompliziertes, einzelfallbezogenes Bewilligungsverfahren zu humanitären Zwecken, das bis heute kaum genutzt werden kann. Mit der sogenannten Humanitären Aktion konnten zwar vorübergehend einige Opfer der Abschaffung des Saisonniers-Statuts einfacher regularisiert werden. Die Voraussetzungen für eine sogenannte Härtefall-Bewilligung wurden bald jedoch wieder gestrafft. Es folgten die nächsten Verschärfungen, die zurzeit darin gipfeln, dass mehrere Tausende abgewiesene Asylsuchende jährlich von der Sozialhilfe und Krankenfürsorge ausgenommen werden und ein elendes Überleben in totaler Kontrolle und/oder Abgeschiedenheit fristen müssen.

"kein mensch ist illegal"

Dank der Aktivitäten nach 2000 konnte die Kampagne "kein mensch ist illegal" auch in der Schweiz Fuß fassen und eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Die Kirchen, Gewerkschaften und Hilfswerke sahen sich durch die Sichtbarmachung der Sans-Papiers gefordert und begannen, sich diesem Thema zuzuwenden. Statistische Daten und Berichte zu deren Situation gibt es seitdem mehrere. Schätzungsweise gibt es mehr als 100.000 Sans-Papiers in der Schweiz. Ihre Aufenthaltsdauer ist sehr uneinheitlich: Trotz einiger Gemeinsamkeiten gibt es ganz unterschiedliche Typen von Sans-Papiers.

Die 20- bis 40-Jährigen machen den Großteil aus. Sie sind überwiegend berufstätig und arbeiten meist in prekären Verhältnissen mit schlechter Bezahlung und hoher Wochenstundenzahl. Sie leben meistens ohne PartnerIn in der Schweiz, hauptsächlich in den Ballungsgebieten, sind aber auch auf dem Land und dann vor allem in der Landwirtschaft zu finden. Im urbanen Gebiet wohnen sie häufig mit weiteren Familienangehörigen, FreundInnen oder Landsleuten in Wohngemeinschaften oder in Untermiete zusammen. Dort sind Frauen unter ihnen zahlreicher, während auf dem Land häufiger Männer anzutreffen sind. Sans-Papiers im urbanen Raum haben auch Kinder, die mehrheitlich eingeschult werden. Leben sie dagegen auf dem Land, haben sie meist in der Schweiz keine Kinder; und wenn sie doch Kinder haben, werden diese häufig nicht eingeschult. Bezüglich Herkunftsregion gibt es auffällige Clusters in unterschiedlichen Regionen der Schweiz: Sans-Papiers aus Lateinamerika, (Süd-)Osteuropa und der Türkei sind am häufigsten anzutreffen. Das Hauptproblem der Sans-Papiers ergibt sich aus ihrem illegalen Aufenthalt. Dieser verhindert darüber hinaus häufig einen Rechtsschutz, macht sie abhängig von Dritten und verringert zusammen mit den oft prekären Lebensbedingungen die Zukunftsperspektiven, was sich auch auf soziale und/oder gesundheitliche Probleme auswirken kann.

Freiwillig treten Sans-Papiers kaum mit offiziellen Ämtern in Kontakt. Ausnahmefälle sind der Wunsch nach Regularisierung des Aufenthaltsstatus oder nach freiwilliger Rückkehr, gesundheitliche Probleme, die Einschulung von Kindern sowie die Einforderung von Grundrechten. Hinzu können Informations- oder Mitteilungsbedürfnisse kommen, die jedoch stark von Netzwerken abhängen, in denen Sans-Papiers leben. Eher gut informiert erscheinen Sans-Papiers über ihren spezifischen Aufenthaltsstatus bzw. über das Angebot von Hilfsorganisationen. Informationsbedarf gibt es hauptsächlich bei Gesundheitsfragen, der Einschulung von Kindern und Arbeitsrechtsfragen.

Die Sans-Papiers-Anlaufstellen

Es gibt also viel zu tun. Und so begannen nach 2000 in verschiedenen Städten die Aufbauarbeiten für die heutigen Anlaufstellen, zur Zeit sieben, wobei zuletzt Mitte November 2010 ein neuer Verein in der Innerschweiz gegründet wurde – die Beratungsstellen für Sans-Papiers sind also immer noch in der Aufbauphase. Die Beratungsstelle in Bern etwa entstand 2005 auf Initiative der Kirchen als unabhängiger Verein mit einer bezahlten Teilzeitstelle. Mittlerweile arbeiten dort drei Leute, die sich 140 Prozent teilen, plus ein/e PraktikantIn. Daneben beschäftigen sich in Bern die Passantenhilfe der Heilsarmee, eine weitere kirchliche Institution und das Schweizerische Rote Kreuz direkt mit den Anliegen der Sans-Papiers. Die Liste der mit ihren Problemen betrauten Personen und Organisationen ist jedoch viel länger. Erwähnung sollen hier unbedingt zwei Gruppen finden: Das Kollektiv "Bleiberecht für alle", in dem auch Betroffene organisiert sind, und die Gruppe "augenauf Bern", die sich auf Abschiebehaft und Abschiebungen sowie Polizei-Übergriffe spezialisiert hat.

Die Sans-Papiers-Anlaufstellen selbst kümmern sich, vereinfacht dargestellt, um Einzelfälle. Daraus werden die Grundlagen für die Sensibilierung der Öffentlichkeit und politischen Verantwortlichen bezüglich der Präsenz von Sans-Papiers und ihrer mit der Verweigerung ihrer Grundrechte zusammenhängenden Probleme erarbeitet. Zwei Nachmittage pro Woche gibt es offene Beratungsstunden, einmal zusätzlich in einer benachbarten Stadt mit Z'Vieri, eine Art Kaffee-und-Kuchen-Happening am Nachmittag, das in der Schweiz sehr beliebt ist. Die angeschnittenen Themen sind vielfältig. Neben asyl-, aufenthalts-, sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen steht die Unterstützung bei Identitätsabklärungen zum Zweck des Heiratens oder der Vaterschaftsanerkennung im Zentrum. Das ist wahrscheinlich die Arbeit, die am meisten Fingerspitzengefühl erfordert, denn mit dem Identitätspapier für das Zivilstandsamt werden grundsätzlich auch die technischen Voraussetzungen für eine Abschiebung beschafft.

Häufige Aufgaben der Beratungsstellen sind die Unterstützung beim Abschluss einer Krankenversicherung, die Abwicklung der staatlichen Prämienverbilligung – ja, die gibt’s, obwohl es Sans-Papiers verboten ist, Steuern zu zahlen – sowie die materielle Nothilfe, die dank eines Auftrags des Schweizerischen Roten Kreuzes in der Region ausgerichtet werden kann. Am meisten Hektik gibt es jedoch, wenn Personen unmittelbar vor der Abschiebung stehen oder gesundheitliche Probleme haben. Das ist bei Sans-Papiers häufig der Fall. Auch hier kann jedoch auf die Hilfe des Roten Kreuzes gezählt werden, das sein Zentrum für Folteropfer mit Kapazitäten für Sans-Papiers aufgestockt hat. Der nahe Kontakt zu den Spitälern und insbesondere zu deren Sozialdienst und deren Administration ist seit Jahren sehr wichtig, denn häufig wissen die einzelnen Angestellten gar nicht, wie sie sich zu verhalten haben, wenn Sans-Papiers ihre Dienste beanspruchen (müssen).

Begleitungen, Gefängnisbesuche und Dolmetscherdienste sind weitere Angebote, die die Beratungsstelle bereitzustellen versucht. Zu diesem Zweck wird derzeit eine Freiwilligengruppe aufgebaut. Das politische Lobbying und die Öffentlichkeitsarbeit wird ebenfalls von Freiwilligen, konkret den Mitglieder des Vorstands, geleistet. Zudem ist die Berner Anlaufstelle in der Plattform Sans-Papiers eingebunden, die neben den anderen Anlaufstellen auch PolitikerInnen, Kirchen, Gewerkschaften, Hilfswerke und andere NGOs auf überregionaler Ebene vereint.

Auf regionaler Ebene bestehen Kontakte zu den wichtigsten AkteurInnen im Bereich Sans-Papiers mittels formeller Sitzungen und informeller Gespräche, am Gewichtigsten sicherlich das Kirchliche Unterstützungsnetz für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers, das sieben verschiedene, von den Kirchen mitgetragene Institutionen vereint. Zum Thema Gesundheit besteht ein weiteres Netzwerk zur Unterstützung der Berner Sans-Papiers, das fünf Organisationen regelmäßig zusammenbringt. Da die Anlaufstellen in einem rechtlichen Graubereich arbeiten – die Unterstützung von Sans-Papiers ist auch in der Schweiz strafbar –, sind die Gespräche mit Chefbeamten und Regierungsvertretenden zur Legitimierung und Absicherung ihrer Arbeit besonders wichtig. Im föderalistischen System der Schweiz haben die einzelnen Kantone und zum Teil gar die Gemeinden einen großen Spielraum in vielen Rechtsgebieten. In den erwähnten Gesprächen wird deshalb versucht, diesen Spielraum zugunsten der Sans-Papiers zu nutzen.

Resümee

Von einer kollektiven Regularisierung, wie sie im Manifest der Sans-Papiers 2001 gefordert wurde, ist man in der Schweiz derzeit zwar weit entfernt, denn die Verschärfungen überwiegen in diesem Bereich immer noch. Ein unerwarteter Erfolg konnte unlängst jedoch mit der Kampagne "kein kind ist illegal" und der Plattform zu den Sans-Papiers gefeiert werden, als das Parlament die Regierung mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs beauftragte, das Sans-Papiers-Jugendlichen den Zugang zu einer Lehrstelle ermöglichen soll.

Von besonderer Bedeutung waren auch dabei internationale Konventionen, aus denen hervorgeht, dass es gewisse Rechte gibt, die Menschen haben, bloß weil sie Menschen sind. Der größte gemeinsame Nenner aller erwähnten Unterstützenden von Sans-Papiers ist sicherlich, dass sie sich bei ihrer Arbeit auf solche Grundrechte berufen, wie sie u.a. in der Europäischen und der UNO-Menschenrechtserklärung, in der Kinder-, der Antifolter- und den Genfer Konventionen sowie in den UNO-Pakten I und II verbrieft sind.


Dieser Text ist die Langfassung des gleichnamigen Beitrags in "MALMOE", Ausgabe #52.


Link: Homepage der Sans-Papiers Beratungsstellen der deutschsprachigen Schweiz

Salvatore Pittàarbeitet in der Sans-Papiers-Beratungsstelle in Bern und ist Präsident der Migrationskommission der Mediengewerkschaft Comedia.