Pippi ist Trend
1986 erhielt Dagmar Chidolue für ihr Jugendbuch "Lady Punk" über ein unangepasstes Mädchen den Deutschen Jugendliteraturpreis. Die Vergabe des renommiertesten deutschsprachigen Jugendliteraturpreises, der immer schon ein Trendindikator der jugendliterarischen Szene war, machte deutlich: Das sogenannte Backfischbuch, das junge Frauen zu lieblichen, angepassten Gattinnen erziehen wollte, war passé. Vielmehr sollten nun, inspiriert durch die antiautoritären Ansätze der 1968er-Generation und die Forderungen der Zweiten Frauenbewegung, Geschichten von selbstbestimmten jungen Frauen erzählt werden, die mit traditionellen Rollenbildern brechen. "Aber ich werde alles anders machen" (Chidolue, 1981) war in diesen Jahren der paradigmatische Titel eines "emanzipierten Mädchenbuches", so die neue Gattungsbezeichnung, an dessen Ende die Protagonistin nicht heiratet, sondern Elternhaus und Freund verlässt, um zu maturieren.
Vielfalt an Mädchenfiguren
Auch wenn auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nach wie vor Bücher absatzführend sind, in denen hartnäckig an Geschlechterklischees festgehalten wird: Seit den späten 1970er-Jahren sind auch anspruchsvolle Titel aus gesellschaftskritischen Verlagen vertreten, die ein neues Rollenverständnis bieten und gängige Gender-Erwartungen unterlaufen. Ob als Prinzessin mit Werkzeugkoffer ("Prinzessin Fibi"-Bücher), weiblicher Tod ("Die kleine Sensenfrau") oder Schnüfflerin im Trenchcoat (aus der "Meisterdetektivin Micki Hammer"-Serie): "Pippi Langstrumpf oder die rote Zora haben eine ganze Menge Nachfolgerinnen bekommen", meint Karin Haller, Leiterin des österreichischen Instituts für Jugendliteratur, und verweist auf engagierte Autorinnen und Autoren wie Kirsten Boie, Cornelia Funke, Christian Bieniek und Heinz Janisch. [1] Es gibt mittlerweile sogar einen regelrechten "Pippilotta-Trend": die Vermarktungsmethode, nach Pippi Langstrumpf benannte Mädchen als Hauptfiguren von Mädchenbüchern zu wählen. Dazu Haller: "Der Kampf der Mädchen gegen die Rollenklischees ist zwar schon weit fortgeschritten, bleibt aber Thema." [2]
Pippi Langstrumpf ist die stärkste Frau der Welt, schreibt ihre eigenen Regeln und hat ein Äffchen und ein Pferd: ein Leben, von dem manch ein schüchternes Mädchen träumt.
Alle wollten Pippi sein, doch die meisten unter uns waren "nur" Annika: brav, ängstlich, ein (wenn auch nicht immer so blondes) Mädchen, das sich sein Kleid nicht schmutzig machen wollte. Mag sein, dass Revoluzzerinnen anders aussehen – aber was wäre Pippi ohne ihr Komplementär?
Illustration: Philippa Häfner
Pippi Langstrumpf (Astrid Lindgren)
Text: Brigitte Theißl
Text: Vina Yun
In Österreich haben sich Autorinnen wie Christine Nöstlinger, Käthe Recheis und Renate Welsh um differenzierte, neue Mädchenfiguren bemüht und gesellschaftskritische Ansätze in ihre Arbeiten eingebracht. Dabei wurde der Blick schon sehr früh auch über die Grenzen der eigenen Biografien gelenkt. Bereits 1973 hatte Renate Welsh mit "Ülkü oder das fremde Mädchen" ein türkisches Mädchen und ihre Probleme als, gemäß des damaligen Vokabulars, "Gastarbeiter_innenkind" in den Mittelpunkt ihres Romans gestellt. Damit war sie ihrer Zeit weit voraus. Denn erst in den letzten zehn Jahren konnten Mädchen mit Migrationshintergrund vermehrt zu Hauptfiguren von Kinderliteratur avancieren.
Wilde Kerle, freche Mädchen
Auf dem aktuellen Buchmarkt dürfen Mädchen stark und frech sein, das ist sogar absatzfördernd. Aber: Sensible, "unmackrige" Jungs sind nach wie vor verpönt und zumeist Außenseiterfiguren mit niedrigem Identifikationsfaktor. Bücher, die antisexistische Jungenbilder favorisieren, verkaufen sich schlecht. Einige Jugendbuchverlage haben darauf mit speziellen "Jungenreihen" reagiert, die in der Aufmachung weit hinter einen reflektierten Zugang zurückfallen, indem sie auf Coolness, klassische "männliche" Sportarten und Hobbys und somit letztlich auf hegemoniale Männlichkeitsbilder setzen.
Das berühmteste Beispiel ist derzeit vermutlich die Reihe "Die wilden Fußballkerle". Hier, wo jede männliche Figur nur über ihre Erfolge bzw. Misserfolge im Fußball definiert wird, scheint alles gut zu sein, solange mann sich miteinander misst und Schwächen überwunden werden. Die Moral dieser Geschichten: Mann sollte konsequent sein Ziel verfolgen, nämlich jenes, schon im Kindesalter ein echter Kerl zu werden, mit allen klischeehaften Zuschreibungen. Es gibt im Fußballteam zwar auch ein Mädchen, dieses vermag diese Logik aber nicht zu durchbrechen und kann den Eindruck nicht vertreiben, dass wir es hier wieder mit der "guten alten männerbündlerischen Lausbubenkultur" zu tun haben, wie es die Literaturwissenschaftlerin Anette Kliewers formuliert hat. [3]
Der Thienemann-Verlag hingegen hat vor einigen Jahren offenbar im Zuge einer Gendermarketing-Offensive die Reihe "Freche Mädchen – freche Bücher" eingeführt. Leider bewegt sich die Auswahl in engen thematischen Grenzen: Die vorwiegend in Rosa- und Pastelltönen gestalteten Bücher haben in puncto Feminismus nur wenig zu bieten, wenn sie fast ausschließlich von heterosexuellen Liebeswirren erzählen, an deren erfolgreichem Ende eine feste Beziehung steht.
Bilderbuch und Geschlecht
Der Erkenntnis folgend, dass gerade Bilder sehr unmittelbar für unsere Vorstellungen von Geschlecht prägend sind, legen auch die Herausgeber_innen gängiger Bilderbuchreihen zu Berufen und alltäglichen Situationen immer mehr Wert darauf, ihre Figuren durchdachter zu gestalten und somit Kleinkindern ein ausgewogeneres Bild der Geschlechter zu vermitteln. Vor allem das erzählende Bilderbuch experimentiert seit den 1990er-Jahren verstärkt mit neuen Ansätzen. 1995 erschien etwa im gesellschaftskritischen Peter Hammer Verlag mit "Frau Meier, die Amsel" ein Buch des Illustrators Wolf Erlbruch. Es erzählt die Geschichte von Frau Meier, die aus der Rolle der braven, ihren Mann bekochenden Hausfrau ausbricht. Aktuell kommen mit den Arbeiten von Verena Hochleitner, Stefanie Harjes, Dorothee Schwab und anderen jungen Illustratorinnen weitere spannende Beispiele dazu.
Bücher für Kleinkinder, die sich kritisch mit Rollenbildern und insbesondere mit dem oft zu beobachtenden Dominanzverhalten von kleinen Buben auseinandersetzen, sind am Buchmarkt nach wie vor selten. Eine Ausnahme ist "Anton und die Mädchen" (2004), eine Serienfigur des mehrfach ausgezeichneten Illustrators Ole Könnecke. Auf vielfältige Weise versucht Anton Eindruck bei den spielenden Mädchen zu schinden. Mit viel Witz umgesetzt ist hier der oft männliche Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen und die eigenen Fertigkeiten zu beweisen, ohne Rücksicht auf den Raum der Mädchen. Manuela Oltens "Echte Kerle" (2004) hingegen zeigt kindgerecht, dass Männlichkeit vor allem ein Konstrukt ist, und entlarvt die Zuschreibung von ängstlichen Mädchen als Projektion ihrer Hauptprotagonisten.
Aus der Sicht eines Mädchens werden Geschlechterstereotype in "Ich hasse Rosa" (2009) von Nathalie Hense und Ilya Green zum Thema. Das schwarz gekleidete Mädchen auf dem Cover des pinken (!) Bilderbuchs räumt so in klaren, schlichten Worten mit hartnäckigen Klischees und den aktuellen Verkaufsschlagern Lillifee & Co. auf. Würmer, Asseln und Spinnen gehören zu ihren Lieblingstieren, die Zeit vertreibt sie sich mit dem Beobachten von Baggern und Kränen. Ihr Freund Luis hingegen spielt gern mit Puppen und Autos. Aufmerksame Betrachter_innen merken zudem: In diesem Buch werden die Kinder in einem interkulturellen Umfeld gezeigt – wie im Übrigen auch in "Paul und die Puppen", das ebenfalls 2009 zum Thema rollenuntypisches Verhalten erschienen ist und zeigt, wie Paul manchmal eben lieber mit Puppen als mit dem Fußball spielt.
Ein blinder Fleck bleibt nach wie vor die geschlechtsneutrale Darstellung von Kindern. Nur wenige Autor_innen bzw. Illustrator_innen wagen, die Geschlechterpolarität aufzuheben, und nur selten sind Verlage bereit, queere Bilder zu publizieren. Wer hiervon derzeit mehr sucht, sei auf die Arbeiten von Christine Aebi, Stefanie Harjes und Bruno Blume verwiesen.
Emanzipierte Eltern?
Nach 1968 haben sich auch die Eltern im Jugendbuch verändert, ihre Einstellungen sind liberaler und ihre Hintergründe vielschichtiger geworden. Mehr denn je werden Kindern mit den Erwachsenenfiguren auch antisexistische Vorbilder vorangestellt. Dennoch dominieren nach wie vor klassische Familienkonstellationen mit herkömmlicher Rollenverteilung.
Ein interessanter Hinweis kommt von der Literaturwissenschaftlerin Anita Schilcher, die gezeigt hat, dass es im Jugendbuch bzw. Adoleszenzroman einen tendenziellen Unterschied in den Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen und Vätern und Töchtern gibt: Haben wir es mit einer Vater-Sohn-Beziehung zu tun, sind die Väter oft repressiver und traditioneller. Väter verhindern offenbar noch heute in der Literatur zu oft, dass ihre Buben ein modernes Männerbild annehmen. Väter von Töchtern hingegen dürfen moderner sein und unterstützen ihre Töchter öfter im emanzipatorischen Prozess.
Die Vaterfiguren in den zeitgenössischen Publikationen versagen außerdem nach wie vor in puncto Beziehungsarbeit und Verlässlichkeit. Für gelingende Lebensmodelle stehen häufiger alleinerziehende Mütter. Ausnahmen kommen etwa von Nikolaus Heidelbach und Michael Roher. Beide Bilderbuchillustratoren zeigen Väter und Männer, die nicht nur mit den Kindern spielen, sondern sich auch um ihre Pflege kümmern. In "6, 7, 8 Gute Nacht" von Michael Roher findet sich eine junge, zeitgenössische Vaterfigur in Cargohosen und Hoodie. Eigentlich versammelt das Buch ungewöhnliche Gutenacht-Reime, die Roher surrealistisch illustriert hat. Es geht im Subtext aber auch um die ganz realen Mühen der ersten Wochen mit einem Baby – mitten in der Nacht abwechselnd aufstehen, füttern etc. Halbe-halbe bzw. "vier Hände, vier Wände" wird hier offenbar ernst genommen.
Drei Männer und ein Baby
Im Buch "Wenn ich groß bin, werde ich Seehund" von Nikolaus Heidelbach stehen Vater und Sohn am Ende von Frau bzw. Mutter verlassen da. Ausgehend von den irischen und schottischen Mythen um Frauen, die eigentlich Seehunde sind, erzählt Heidelbach die Geschichte eines Jungen, der mit Mutter und Vater an einer Meeresküste lebt. Die Mutter verlässt die Familie, weil sie den Ruf des Meeres vernimmt und wieder in dieses zurückkehrt. Die Trauer über den Verlust ist spürbar, ebenso wie die Zuversicht, dass es in der neuen Zweierkonstellation schon klappen wird. "Jetzt ist Sommer und wir leben allein. Papa geht nicht mehr so oft zum Fischen. So kommen wir ganz gut zurecht", steht unter dem berührenden Abschlussbild, das Vater und Sohn in inniger Umarmung zeigt.
Ein bemerkenswertes Jugendbuch zum Thema Teenager-Schwangerschaften wiederum ist "Boys Don't Cry" (2011) von der Britin Malorie Blackman. Dante, 17, hat in der Schule hart gearbeitet, um vorzeitig auf die Uni gehen zu können. Doch an dem Tag, als ihm endlich das lang ersehnte Zeugnis geschickt wird, bekommt er auch eine Tochter. Seine Ex-Freundin Melanie steht plötzlich mit einem Baby vor der Tür. Melanie macht sich unter einem Vorwand aus dem Staub, und Dante ist plötzlich nicht nur Kandidat für die Uni, sondern vor allem Vater. Sein jüngerer schwuler Bruder und sein liebenswerter, selbst alleinerziehender Vater machen ihm klar, dass es nun heißt, Verantwortung zu übernehmen. Das vorsichtige Happy End zeigt eine neue Familienkonstellation, bestehend aus drei Männern und einem Baby: "Wir waren eine Familie, und wir waren zusammen."
Neue Wege
Dass innovative, geschlechterkritische Projekte von kreativen Autor_innen funktionieren und ihr Publikum finden können, zeigt etwa das Beispiel von Lilly Axster und Christine Aebi, die mit "DAS machen?" (2012) kurz nach Erscheinen den österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis gewonnen und somit wiederholt mit einem queer-feministischen Buch Bestätigung gefunden haben (siehe auch "Interview mit Lilly Axster"). Oder der Schweizer Autor Rolf Lappert, der letztes Jahr einen überraschenden Erfolg mit "Pampa-Blues" landete, in dem der 16-jährige Protagonist in einer norddeutschen Gemeinde seinen kranken Großvater pflegt.
Auch dass die Projekte von Andreas Steinhöfel, der immer wieder das Thema Homosexualität und nicht-hegemoniale Männlichkeit in seinen Büchern berührt, mittlerweile auf Preise abonniert sind, spricht für den Bedarf der jugendliterarischen Szene und lässt hoffen, dass sich der Buchmarkt weiter der Vielfalt öffnet. Die Utopie einer zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur lässt sich einmal mehr mit Karin Haller formulieren: "Flexible und offene Identitätsangebote, in denen von der Umwelt mit Selbstverständlichkeit akzeptierte Individualität nichts mehr mit wie auch immer gearteten rollen- und geschlechtsspezifischen Erwartungshaltungen zu tun hat." [4]
Dieser Beitrag erschien auch in: an.schläge 06/2013.
Fußnoten
[1] Karin Haller: Von Marsmädchen und Jupiterjungs. Zur Gender-Perspektive in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Erziehung und Unterricht, 5–6/2004.
[2] Haller 2004
[3] Anette Kliewer: Lausbuben und Musterknaben. Rollenwandel der Jungen in der Kinderliteratur. In: JuLit 2007/1.
[4] Haller 2004