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Patient_in Tin Lizzie

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von Tobias Haas

Fortschritt im Rückwärtsgang

Als im Sommer 2016 die Novelle des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG) beschlossen wurde, wurde von Seiten des Gesundheitsministeriums und der Landesgesundheitsreferent_innen von einem Meilenstein gesprochen.
Die Akademisierung der Gesundheits- und Krankenpflege diente als vordergründiger Beweis des Fortschritts, während die problematischen Teile der Novelle in den Hintergrund gerieten. Die Novelle des GuKG sieht nämlich eine neue Dreiteilung der Pflegeberufe vor. Einerseits wird der gehobene Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege akademisiert und künftig nur mehr an Fachhochschulen ausgebildet. Andererseits wird ein neuer Assistenzberuf mit zweijähriger Ausbildung eingeführt, welcher seinen Platz zwischen dem gehobenen, akademischen Dienst mit dreijähriger Ausbildung und dem Beruf der Pflegeassistenz mit einjähriger Ausbildung findet. Es handelt sich dabei um den Beruf der Pflegefachassistenz.
Nun mag dies augenscheinlich nicht unbedingt ein Nachteil sein. Es könnte ja auch der Zweck erfüllt werden, die einjährige Ausbildung aufzuwerten und mittels der zweijährigen Ausbildung insgesamt ein höheres Qualifikationsniveau im Pflegebereich zu erreichen. Bei genauerer Betrachtung der Berufsbilder bzw. Tätigkeitsbereiche wird jedoch sichtbar, dass die Pflegefachassistenz in weiten Teilen das Potenzial hat, den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege zu ersetzen.

Das Stichwort dazu lautet Delegation. Mittels Delegation soll es geringer qualifizierten Berufsgruppen (und damit billigeren Arbeitskräften) ermöglicht werden, einen Großteil der Aufgaben im Pflegebereich durchzuführen. Dem gehobenen Dienst obliegt somit nur mehr die Verantwortung zu überprüfen, ob die Aufgaben ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Delegation erfüllt in diesem Zusammenhang den Zweck, von teuren Berufsgruppen, wie z.B. Ärzt_innen oder dem gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege, möglichst wenige Personen zu benötigen und trotzdem genügend Beschäftigte zu haben, die letztendlich die auszuführenden Tätigkeiten selbst übernehmen.

Ein Prinzip, welches am besten mit Fließbandarbeit in einer Fertigungsfabrik vergleichbar ist. Viele billige Arbeitskräfte arbeiten an einem Produkt und führen jeweils nur ein geringes Spektrum an Tätigkeiten durch. Dann gibt es die Vorarbeiter_innen, die über einen gewissen Teil der Tätigkeiten die Verantwortung haben, jedoch selbst nicht Hand anlegen. Und schließlich noch die Ebenen der Produktionsleitung und der Geschäftsführung, die ihrerseits wieder delegieren und subdelegieren: Fertig ist das Produkt der Fließbandarbeit, sei es ein Auto wie die Tin Lizzie oder ein Kühlschrank.
Diese arbeitsteilige Produktionsweise von Produkten, die an sich schon problematisiert werden kann, wird 1:1 im Gesundheitsbereich umgesetzt. Dabei geht es aber nicht um Produkte, sondern um Menschen, um Patient_innen, die ein Gesundheitsproblem haben und somit meist höchst vulnerabel sind. Sie werden zu einem statistisch verwertbaren Produkt gemacht, welches in betriebswirtschaftlichen Kennzahlen verwertet werden kann. Diese sind letztendlich der politisch gewünschte Erfolgsmaßstab - nicht das Wohlbefinden oder das Gesundheitsempfinden. Produkte empfinden nicht, Kennzahlen auch nicht.

Skill- und Grade-Mix - der "optimale" Mix

Diese Entwicklung im Gesundheitsbereich wird jedoch nicht nur für Patient_innen zum Problem, sondern auch für die Beschäftigten. Um sie in dieser Delegationsstruktur optimal einsetzen zu können - "optimal" im Sinne möglichst niedriger Kosten -, braucht es Bewertungsinstrumente und Konzepte, die im technokratischen Sinne das Vorgehen der Führungsebene erklären und außerdem den Beschäftigten eine Orientierung im "Fertigungsprozess" geben. Im Bereich der Pflege hat sich hier der Begriff "Skill- und Grade-Mix" durgesetzt. Damit ist eine Personalzusammensetzung gemeint, die sich einerseits an den individuellen Fähigkeiten (Skills) und andererseits an den Ausbildungsgraden (Grades) der Mitarbeiter_innen orientiert. Ziel soll eine "optimale" Zusammensetzung von Teams bzw. des Gesamtpersonals einer Einrichtung sein. Der Skill- und Grade-Mix soll also ein Steuerungsinstrument sein, welches der Personalplanung und der optimierten Versorgung dient. Was dabei vergessen wird, ist, dass Patient_innen und deren Gesundheit eigentlich der hauptsächliche "outcome" sein sollten und das Maß für den Skill- und Grade-Mix nicht das unterste Niveau des Machbaren sein kann, nämlich jenes der Kosteneffizienz.

Outcome ist dabei ein wichtiges Stichwort, welches auch im Zusammenhang mit Technokratisierung genannt werden kann. Outcomes, also die Ergebnisse von Pflege und Behandlung, können die unterschiedlichsten Indikatoren sein. Das kann Mobilität oder Ortsfixierung sein; das kann der Ernährungszustand, die Bewusstseinslage oder die Stimmung des/der Patient_in sein. Vieles wäre möglich, vieles ist messbar. Die Auswahl der gemessenen Outcomes kann jedoch auch starken Einfluss auf den Skill- und Grade-Mix und die Anforderungen an diesen haben. Im Wiener Krankenanstaltenverbund wird z.B. als einziges pflegespezifisches Outcome die Entstehung von Dekubiti, also von druckbedingten und einigen anderen Faktoren abhängigen Wunden, gemessen. Dann gibt es noch die Patient_innenzufriedenheitserhebung, welche sich auf orientierte und mit der Fähigkeit zum Lesen und zum Schreiben ausgestattete Patient_innen beschränkt. Diese beiden Erhebungen können unmöglich dazu dienen festzustellen, ob ein optimaler Skill- und Grade-Mix im Sinn einer guten Versorgung der Patient_innen besteht. Was bleibt, ist der Indikator der Kosten, welcher wiederum die Zuschreibung "optimal" definiert. Dabei rutschen sowohl das Wohlergehen der Patient_innen als auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Hintergrund. Die Arbeitsbelastung der Beschäftigten ist nämlich auch keiner dieser Indikatoren, der gemessen wird. Sie wird strapaziert, bis es nicht mehr geht - oder sich die Mehrbelastung als selbstverständlich etabliert hat.

One Solution - CARE Revolution.

Diese Selbstverständlichkeit von knappen Ressourcen ist eines der Hauptprobleme, wenn es darum geht, sich gegen diese Zustände zu wehren. Sowohl bei den Mitarbeiter_innen als auch bei den Patient_innen hat sich die Meinung manifestiert, dass es halt nicht anders gehe. Seitens der Politik und der Führungsetage wurde in den vergangenen Jahren immer wieder gepredigt, dass die Gesundheitskosten steigen und das ganze System an den Grenzen der Finanzierbarkeit angelangt ist. Dieses Mantra hat sich in den Köpfen festgesetzt und führt sowohl auf Patient_innenseite als auch auf Pfleger_innenseite zu Resignation. Froh zu sein, dass einem/einer überhaupt noch geholfen wird bzw. froh zu sein, "nur" zwölf und nicht 16 Patient_innen alleine versorgen zu müssen - hier werden Schieflagen offenkundig, derer wir uns bewusst werden müssen und an denen es gilt, politisch zu arbeiten.

Während etablierte Gewerkschaften wie z.B. die Younion (früher Gewerkschaft der Gemeindebediensteten) über die Jahre hinweg zu starren Strukturen wurden, die sich selbst feiern, wenn Pfleger_innen eine 1,3-prozentige Gehaltserhöhung bekommen, hat sich vor gut zwei Jahren die Basisinitiative CARE Revolution Wien gegründet. Ziel von CARE Revolution Wien ist eine Politik der Nadelstiche, die dazu führt, dass Pfleger_innen und andere Gesundheitsbeschäftigte sich vermehrt mit ihren Arbeitsverhältnissen auseinandersetzen. Dabei geht es einerseits um Kritik, aber andererseits auch darum, sich mit Forderungen zu beschäftigen, die über die von den Gewerkschaften längst akzeptierten Budgetrahmen hinausgehen. Es geht um eine Praxis der Solidarität, wenn mittels Arbeitsteilung versucht wird, die Beschäftigten zu spalten, und es geht darum, einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass Gesundheitsbeschäftigte bereit sind, für bessere Arbeitsverhältnisse und für eine bessere Versorgung der Patient_innen zu kämpfen. Das bedeutet beispielsweise auch, das Wort Streik wieder in den Mund zu nehmen. Gerade die Younion hat dieses nicht nur vergessen, sondern aktiv aus dem Wortschatz verbannt.

Im Zuge angedrohter oder existenter Repressionen und angesichts von Arbeitszeiten, die die Einteilung der Freizeit schon zu einer Herausforderung machen, ist es jedoch sehr schwierig, Beschäftigte im Gesundheitsbereich zu organisieren. Es wird nicht immer gelingen, Menschen auf der Straße protestieren zu sehen. Daher braucht es auch Mittel wie Betriebsflugblätter oder Social Media, die ein essenzieller Teil der CARE Revolution Wien sind. Dabei kann es gelingen, Solidarität zu vermitteln und auch zur Praxis werden zu lassen. Der nächste Schritt wäre es, die Solidarität mit und von den Patient_innen in Angriff zu nehmen. Ein gutes Beispiel hierfür wäre die Initiative Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus, die im Zuge des Streiks an der Charité aktiv wurde.

Initiativen wie die CARE Revolution Wien können jedoch nur einen kleinen Beitrag leisten, um den technokratischen und sparpolitischen Maßnahmen im Gesundheitsbereich Einhalt zu gebieten. Letztendlich braucht es eine breite Informiertheit und eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik.

Tobias Haasist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und Aktivist bei CARE Revolution Wien. .