crossover

Freundschaft und Privilegien

share on facebookprint/drucken
von Bahareh Sharifi
Image
©Patu, Panel aus dem Comic New Moves
+

In unseren vielfältigen Beziehungen, die wir mit Menschen haben, nehmen Freundschaften eine besondere Rolle ein. Im Gegensatz zur Herkunftsfamilie, ausbildungs- und beruflichen Umfeld, ist Freundschaft in der Regel ein selbstbestimmter sozialer Raum. Freundschaften sind quasi der gesellschaftliche Mikrokosmos, den wir uns selbst aussuchen.

Insbesondere für Menschen, die alltägliche strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung erfahren, ist Freundschaft einer der wenigen Orte, in dem sie gehört und gesehen werden. In Freundschaften erfahren sie Zustimmung und Empathie. Ihre Existenz und ihre Perspektive wird nicht in Frage gestellt. Freundschaften können die Quelle sein, aus dem sich das Selbstwertgefühl schöpft. Eine Community im Kleinen. Der kleine safer space, der sonst nicht gewährt wird. Der Ort zum Ausatmen, zur Heilung, zur Genesung.

In Freundschaften werden Erfahrungen ausgetauscht, Ratschläge gegeben und gemeinsam (Überlebens)Strategien entwickelt.

Aber auch Freundschaften sind kein machtfreier Raum.

Oft suchen wir unsere Freund*innen nach ähnlichen Interessen und Perspektiven aus. Danach, wie wir die Welt verstehen. Wir treffen sie in den sozialen Räumen, in denen wir uns bewegen. In der Schule, an der Uni, bei der Ausbildung, im Club, beim Sport oder in einem Verein.

Meistens stammen sie aus ähnlichen sozialen Milieus. Und dennoch treffen unterschiedlich positionierte Menschen aufeinander, die über unterschiedliche Privilegien verfügen.

Privilegien haben bedeutet, Zugang zu haben zu gesellschaftlichen Ressourcen und Infrastrukturen, die anderen verwehrt bleiben: In der Schule, an der Uni, im Arbeitsalltag oder bei Ärzt*innen und auf dem Amt keine Benachteiligung aufgrund von Rassismus, (Hetero-)Sexismus, Queerfeindlichkeit, Behinderung oder der sozio-ökonomischen Herkunft zu erfahren. Nicht auf die Einhaltung von Gesetzen angewiesen zu sein, die Gleichbehandlung behaupten, aber in der Praxis selten greifen.

In einer Gesellschaft, die auf historisch und institutionell gewachsener Ungleichheit aufgebaut ist, bedeutet Privilegien haben auch, von Ungerechtigkeit zu profitieren. Privilegien haben bedeutet, sie für selbstverständlich zu nehmen, nie über sie nachdenken zu müssen. Dabei bilden Privilegien und Deprivilegien ein System von Ein- und Ausschlüssen:

- Ob wir über eine deutsche/EU- oder nordamerikanische Staatsbürgerschaft verfügen, einen geduldeten oder gar einen illegalisierten Aufenthaltsstatus haben.

- Ob uns die privilegierte Staatsangehörigkeit von Geburt an zugesprochen wurde oder wir sie erst mit Volljährigkeit bzw. zu einem späteren Zeitpunkt im Leben erhalten konnten.

- Ob Familienangehörige innerhalb der nationalen Grenzen, die Deutschland für sich in unterschiedlichen historischen Epochen in Anspruch genommen hat, Anspruch auf staatsbürgerschaftliche Privilegien hatten und dadurch Kapital und Besitz anhäufen, Status und Netzwerke aufbauen konnten, oder ihnen über Jahrzehnte hinweg Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt geblieben ist.

- Ob der Grenzübertritt nach Deutschland mit einem Arbeits- oder Studierendenvisum erfolgte oder sie nach Deutschland geflüchtet sind.

- Ob es nur einen oder beide Elternteile betrifft.

- Ob wir gar selbst geflüchtet sind.

- Ob wir als Kinder gekommen sind oder als Erwachsene.

- Ob der Anerkennungsprozess sich über einen absehbaren Zeitraum oder jahrelang hinauszog.

- Die Kettenduldung einen zermürbte, die Angst vor Abschiebung zum täglichen Bestandteil des Lebens wurde.

- Ob wir in einer Eigentums- oder Mietwohnung, oder in einer Sozialwohnung oder im Asylheim aufgewachsen sind.

- Ob uns jemand bei den Hausaufgaben helfen konnte oder nicht.

- Ob wir in der Schule Diskriminierung oder Gleichbehandlung erfuhren.

- Ob es zumindest einen Elternteil gab, der beim Elternabend oder bei Arztbesuchen ernst genommen wurde. Oder ob wir selbst die offiziellen Briefe unserer Eltern übersetzten und sogar verfassten.

- Ob die Eltern ungehinderten Zugang zu Ausbildung hatten oder ihnen ihr ausländischer Schul- oder Universitäts- bzw. Ausbildungsabschluss aberkannt wurde.

- Ob wir unsere Ausbildung selbst finanziert haben, Anspruch auf Bafög hatten oder von unseren Eltern finanziert wurden. Ob wir mit oder ohne Schulden ins Arbeitsleben starten. Oder ob wir nach der Ausbildung aufgrund von Behinderung sofort in Frührente abgeschoben wurden oder der Aufenthaltsstatus mit Abschluss der Ausbildung endete.

- Ob die Welt ein sicherer Ort für uns ist, den wir gern bereisen oder wir gar ganze Stadtteile und Bundesländer meiden.

- Ob wir Umwege fahren müssen, weil Stationen nicht barrierefrei sind.

All das und vieles mehr prägt, wie wir das Leben navigieren. Wie wir (über-)leben. Welche Strategien für uns Sinn machen und auf welche wir gar keinen Zugriff haben.

Welche Chancen wir bei Bewerbungen für einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung haben.

Mit welchem Selbstverständnis wir einen Raum betreten, welche Bürgschaft wir vorweisen können oder welche Noten sich auf unseren Zeugnissen befinden. Ob wir nie von bestimmten Arbeitsstellen gehört haben, weil sie nicht auf dem freien Markt verfügbar sind, und wir niemanden kennen, der uns weiterempfehlen kann.

Ob wir als Berufsanfänger*innen von unseren Eltern bezuschusst werden oder ob wir schon von Anfang an für die Unterstützung ihrer Altersrente sparen. Ob wir Geld oder Schulden erben.

Ob wir leichtfertig über unsere ‘Armut’ sprechen, weil wir gerade Teilzeit arbeiten, aber jederzeit auf das Sparkonto zurückgreifen können, das für uns bei der Geburt angelegt wurde und zu feierlichen Anlässen von Omi bezuschusst wurde. Oder aber ob Armut unter anderem bedeutet, ein Leben lang in Abhängigkeit vom Sozialsystem zu sein oder gar keinen Zugang dazu zu haben. So dass der Begriff uns nicht über die Lippen geht, weil die allgegenwärtige Prekarisierung mit Scham behaftet ist. Denn Armut ist nicht sexy, wenn du wirklich arm bist.

Ob für uns mal eine Zeitlang Arbeitslosengeld beziehen ein denkbarer Weg aus der neoliberalen Dauerbelastung und Prekarisierung ist, weil sich für uns als Teil der Mehrheitsgesellschaft und durch unsere Bildungsprivilegien das System relativ einfach navigieren lässt, oder aber ob wir aufgrund von Deprivilegien und unangenehmen Erfahrungen jegliche Auseinandersetzung mit Behörden möglichst umschiffen und vermeiden.

Wenn wir unserem Gegenüber nicht zuhören und uns die eigene gesellschaftliche Positionierung und unsere Privilegien nicht bewusst sind, kann selbst der Austausch von Strategien schmerzhaft oder gar retraumatisierend sein, da das Gespräch daran erinnert, welche sozialen Möglichkeiten einem ein Leben lang verwehrt bleiben. Besonders in Freundschaften ist das ein sensibler Punkt.

Aber Privilegien der anderen als solche zu markieren und die eigene Deprivilegierung darin zu thematisieren kann zu unangenehmen Situationen führen. Man* läuft Gefahr zum Killjoy zu werden. Man* wird vom Gegenüber bisweilen als wenig empathisch empfunden. Jemand, die*der dem Gegenüber keine Solidarität entgegenbringt. Zu einem vermeintlich unpassenden Moment etwas thematisiert, das man* gerade nicht hören will. Ein bisschen nervt.

Aber nicht über Privilegien zu sprechen bedeutet, die Einbettung von Freundschaft in gesellschaftliche Machtverhältnisse auszublenden. Beim Thema Rassismus gibt es ein ähnliches Problem mit der Vorstellung von Colorblindness, also dem Glauben, dass man* keine Unterschiede sieht zwischen weißen Menschen und People of Color, womit gleichzeitig auch Rassismus als historisch gewachsenes, strukturelles Gewaltverhältnis negiert wird, und damit auch die rassistischen Erfahrungen, die jemand macht. Analog dazu bedeutet die Entpolitisierung von Freundschaft als sozialem Raum, die Ausschlusserfahrungen des Gegenübers zu entwerten und auszublenden.

Privilegien sind relativ. In unterschiedlichen Konstellationen bedeuten sie Unterschiedliches. 

Mikroaggressionen, also alltäglichen, kleinen verbalen Ausgrenzungsmomenten ausgesetzt zu sein, ist etwas anderes als strukturelle Benachteiligung und Gewalt zu erfahren. Regelmäßig gefragt zu werden, wo man* herkommt, macht einen tagtäglich zum Anderen, verunsichert das Selbstwertgefühl, prägt negativ das eigene Wohlempfinden. Dennoch ist es etwas anderes, wenn einem jahrelang der Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten verwehrt bleibt. Obwohl beides auf Rassismus beruht, sollten wir bedacht sein, diese Erfahrungen nicht gleichwertig nebeneinander zu stellen. Denn sonst verpassen wir, die unterschiedlichen sozialen Ausgangsbedingungen zu berücksichtigen, die innerhalb von Rassismus erzeugt werden und zwar auf Kosten der Erfahrung derjenigen, die eine depriviligierte Position innehaben.

Besonders diejenigen, die eine Aufwärtsmobilität erfahren haben, finden sich oftmals in einem Umfeld wieder, das im Gegensatz zu einem selbst auf materielles und symbolisches Kapital zurückgreifen kann und damit auf Stabilität. Denn was aufwärts geht, kann auch schnell wieder abwärts führen. Berichte der Bundesbeauftragten für Migration und Menschenrechtsberichte zeigen, dass das Armutsrisiko von Menschen mit Migrationshintergrund auch mit Abitur und Fachhochschulabschluss höher ist als bei Menschen ohne Migrationshintergrund und Hauptschulabschluss. Dabei ist weiterhin zu differenzieren, ob es sich um Migration oder Flucht handelt. Aus dem Globalen Süden oder dem Globalen Norden. Ob es einen selbst betrifft, einen oder beide Eltern bzw. Großeltern. Welchen politischen und gesetzlichen Bestimmungen zum Zeitpunkt der Migration bzw. Flucht vorherrschten. Diese Ausgangsbedingungen bestimmen, wie tief Menschen fallen, wenn sie fallen. Und dennoch entsteht in bürgerlichen Kreisen schnell der Eindruck, dass alle auf dasselbe Fundament Zugriff haben, dass ähnliche Erfahrungen ihren Weg bestimmt hätten. Doch nicht allen wurde die Einfahrt zur Schnellstraße angezeigt. Manche mussten die holprige Landstraße mit den Schlaglöchern und der Geschwindigkeitsbegrenzung nehmen, in langen ermüdenden Staus an den vielen Baustellen vorbei, um letztlich an dem Ziel anzukommen, das andere schneller und bequemer erreicht haben, um letztlich festzustellen, dass das Abbiegen im Kreisverkehr für sie nicht möglich ist und sie eine andere Richtung einschlagen oder gar ganz zurückfahren müssen.

Zur Marginalisierungserfahrung gehört oft auch Vereinzelung, von eigenen Communities isoliert worden zu sein und innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zum Anderen gemacht zu werden, dem weniger Rechte zustehen. Vorsicht und Misstrauen sind daher Teil der Überlebensstrategie. Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, haben gelernt, die Ausgrenzungserfahrung zu navigieren und wenn sie die Möglichkeit haben, Räume aufzusuchen, von denen sie hoffen, darin seltener mit Ausschlüssen konfrontiert zu werden. Freundschaften gehen daher für sie mit einem Vertrauensvorschuss einher, der Hoffnung, dort keiner diskriminierenden Erfahrung ausgesetzt zu sein. Dieses Vertrauen zu brechen bedeutet für sie, dass sicher geglaubte Räume noch ein Stück kleiner werden.

Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken und Verantwortung zu übernehmen, wäre ein bewusster Umgang mit den eigenen Privilegien. Dazu ist es zunächst wichtig, sich überhaupt damit zu beschäftigen, in welchen Bereichen man* privilegiert ist und dies in Zusammenhang mit dem eigenen Umfeld zu verstehen. Das birgt die Chance, die Welt ein kleines bisschen mehr in ihrer Komplexität zu begreifen. Aber letztlich ist es ein Mehrwert für diejenigen, die in der Mehrheitsgesellschaft heimisch sind. Denn Marginalisierte kennen die vielen Seiten der Medaillen und meist die unschönen. Dazu beizutragen, dass zumindest im Privaten ihre Erfahrungen weniger unsichtbar gemacht werden, ist das Privileg von Privilegierten.

Bahareh Sharifientwickelt Antidiskriminierungsmaßnahmen sowie Empowermentformate für den Kulturbetrieb. Zuvor kuratierte sie verschiedene Festivals, u.a. die Interventionen 2016 & 2017 (Kulturprojekte Berlin) sowie Berlin Calling (Maxim Gorki Theater). Zudem forscht sie zu der Geschichte geflüchteter und migrantischer Communities in Deutschland.