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Gestatten: Hermine Potter, Installateurin

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Interview mit Renate Tanzberger

migrazine.at: Beim Verein EfEU setzt ihr euch unter anderem für die Erweiterung der Geschlechterrollen von Mädchen und Buben ein – welchen Beitrag kann hier Kinder- und Jugendliteratur leisten?

Renate Tanzberger: Einen sehr großen. Zum einen können Kinder- und Jugendbücher, die alternative Lebensentwürfe aufzeigen, zu einer Erweiterung dessen beitragen, was Kinder und Jugendliche sich vorstellen können. Zum anderen ist es auch wichtig, Diversität in dieser Literatur sichtbar zu machen, um der Lebensvielfalt, in der Mädchen und Buben heute aufwachsen, Raum zu geben, zum Beispiel mit Bildern von Patchworkfamilien, Alleinerzieher_innen, gleichgeschlechtlichen Paaren, Geschlechtsidentitäten, Vätern in Karenz oder verschiedensten kulturellen Hintergründen.

Buben gelten gemeinhin als Lesemuffel. Haben Identifikationsfiguren in Kinder- und Jugendbüchern dementsprechend eine größere Bedeutung für Mädchen?

Die Frage ist meines Erachtens falsch gestellt. Ich glaube, dass es nach wie vor für Mädchen selbstverständlicher ist, sich auch mit männlichen Figuren zu identifizieren als umgekehrt. Für Mädchen ist es nicht peinlich, beispielsweise Abenteuerromane mit männlichen Handlungsträgern zu lesen, aber welcher Bub greift schon zu einem Buch mit rosa Cover, auf dem ein Mädchen mit Pferd zu sehen ist? Buben sind keine prinzipiellen Lesemuffel, "Harry Potter" haben viele gelesen, obwohl die Bände nicht gerade dünn sind. Ob ein Buch mit Titel "Hermine Potter" bei Buben auch so gut angekommen wäre, wage ich aber zu bezweifeln.

Sind eurer Erfahrung nach Kindergarten- und SchulpädagogInnen ausreichend sensibilisiert, was die Auswahl geeigneter Kinder- und Jugendliteratur betrifft?

Es gibt inzwischen – beispielsweise in der "Education Box" der Stadt Wien – Kriterienkataloge für die Auswahl sowie Listen mit Buchempfehlungen. Dass Pädagog_innen aber deshalb schon ausreichend sensibilisiert wären, kann leider nicht behauptet werden.

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Die feuerrote Friederike (Christine Nöstlinger)

Friederike wird in der Schule gehänselt: Das dicke Mädchen mit den Sommersprossen und den roten Haaren ist jeden Tag dem Spott der Klasse ausgesetzt. Doch Friederike hat ein Geheimnis: Ihre Haare sind nicht nur feuerrot, sie können auch brennen!
Text: Brigitte Theißl, Illustration: Pauline Häfner

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Vor allem in älteren Kinder- und Jugendbüchern sind oftmals rassistische Begriffe zu finden. Welchen Umgang mit diesen Materialien empfehlt ihr?

Wir haben bei einer Broschüre [1], die sich mit dem Thema "Lesbisch, Schwul, Bi" auseinandersetzt, aber eine rassistische Zeichnung beinhaltet, diese Darstellung mit einem alternativen Bild überklebt. Texte können beim Vorlesen verändert, manche Wörter oder Zeichnungen überklebt werden. Zusätzlich ist es natürlich auch wichtig, mit den Kindern darüber zu reden, warum manche Darstellungen verletzend und einfach nicht okay sind.

Wie sieht es mit geschlechtsspezifischen Rollenklischees in Schulbüchern aus – wie viel hat sich hier in den vergangenen Jahren zum Positiven verändert?

Es hat sich auf jeden Fall etwas verändert – inzwischen lenken auch Frauen Autos, und Männer kaufen ein ... Aber ernsthaft: Eine geschlechtergerechte Sprache ist nach wie vor selten anzutreffen, und wenn beispielsweise die Bilder oder Textbeispiele eines Mathematikschulbuches dahingehend ausgezählt werden, wie oft Berufsbezeichnungen in weiblicher und in männlicher Form vorkommen, findet sich immer noch ein arges Ungleichgewicht zu Ungunsten der Frauen. Auch wenn man schaut, ob bzw. Themen wie Migration, Homosexualität oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen in Schulbüchern vorkommen, wird schnell deutlich, dass noch viel zu tun ist.

Das Thema "Migration" schlägt sich in der aktuellen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur also kaum nieder, trotz seiner massiven medialen Konjunktur in den vergangenen Jahrzehnten?

Es gibt inzwischen viele Kinder- und Jugendbücher, die sich mit dem Leben in anderen Ländern beschäftigen, das Thema Migration ist aber viel weniger vertreten. Eine Entwicklung, die ich jedoch sehe, ist, dass in letzter Zeit auch vermehrt Autor_innen, die selbst migrantische Wurzeln haben, zu diesem Thema schreiben. Nicht, dass sie darauf festgelegt werden, aber ich finde es gut, wenn bestimmte Themen auch von Personen behandelt werden, die eigene Erfahrungen einarbeiten können. Von einem Mainstream-Thema würde ich nicht sprechen, aber wenn auch historische Romane dazugezählt werden – Migration, auch erzwungene Migrationen, gab es ja immer – sowie Romane, die in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen, finden sich inzwischen einige Bücher. Wobei es hier öfter um Migration in der ersten Generation geht, das Leben in einer Migrationsgesellschaft wird noch viel zu wenig thematisiert. Eine Schwierigkeit dabei ist sicher, beim Thematisieren nicht wieder in Klischees zu verfallen. Sichtbar machen ohne gleichzeitig wieder festzuschreiben, das ist eine Gratwanderung. Und dann bleibt die Frage: Seit wie vielen Generationen muss jemand in Österreich leben, um nicht mehr als "Migrant_in" angesprochen zu werden?

EfEU hat mehrere Projekte mit Mädchen mit Migrationshintergrund durchgeführt, in einem ging es um migrantische Mädchen in Jugendbüchern. Im Rahmen des Projekts haben diese selbst Bücher zum Thema rezensiert. Wie sehr decken sich ihre Lebensrealitäten und Perspektiven mit der literarischen Darstellung?

Leider viel zu wenig. Es müsste wesentlich mehr Bücher geben, um die verschiedenen Lebensrealitäten abzudecken. Als Ergebnis unseres Projekts finden sich auf unserer Website" Jugendbücher, in denen Mädchen mit migrantischen Wurzeln Handlungsträgerinnen sind, ein Teil dieser Bücher wurde dabei von Schülerinnen mit Migrationshintergrund rezensiert. Die Themen sind vielfältig: Flucht, Ankommen, illegalisierter Aufenthalt, Gewalt, Diskriminierung, Rassismus, aber auch Freundinschaft, Verliebtsein. Etwas, das kaum vorkommt, ist das Thema "Beruf". Wir hatten den Schülerinnen beim Projekt auch freigestellt zu schreiben, ob bzw. wie sie sich im rezensierten Buch wiederfinden. Die Rezensentin des Buches "So frei wie ihr? Hatice lebt zwischen zwei Welten" schrieb daraufhin: "Meine Eltern haben mich nie so behandelt wie Hatices Eltern, und ich bin ganz anders erzogen worden. Ich trage zwar seit fünf Jahren ein Kopftuch, aber ich wurde niemals dazu gezwungen. Meine Eltern überlassen oft alles mir, welche Schule ich absolvieren soll, wen ich heirate, ob ich Kopftuch trage usw."

Auf welche Weise können Kinder- und Jugendbücher als selbstermächtigende Ressource dienen?

Kinder- und Jugendbücher bieten die Möglichkeit der Identifikation, sie eröffnen neue Welten, sie bieten Handlungsalternativen, Problemlösungen, sie regen zum Träumen an – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Als selbstermächtigend sehe ich es an, wenn durch Bücher Alternativen aufgezeigt werden, die mich stärken, auf die ich selber aber vielleicht nicht gekommen wäre. Etwa im Sinne von: "In diesem Buch bewahrt das Mädchen kein 'böses Geheimnis', sondern wendet sich an eine Lehrerin um Hilfe" – aber auch, wenn in Büchern eigene Lebensrealitäten behandelt werden, zum Beispiel wenn vermittelt wird: "In diesem Buch hat das Kind auch zwei Mütter" oder "dieses Mädchen trägt auch ein Kopftuch" und letztlich auch "ich und mein Leben werden selbstverständlich wahrgenommen".


Interview: Brigitte Theißl und Vina Yun




Dieser Beitrag erschien in gekürzter Form auch in: an.schläge 06/2013.



Link
EfEU – Verein zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle


Fußnote

[1] Martin Ganguly: "Ganz normal anders – lesbisch, schwul, bi", Berlin 2003

Renate TanzbergerObfrau des Vereins zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle (www.efeu.or.at), liest, schreibt und forscht gerne.