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"Die klassische Migration gibt es nicht mehr"

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Interview mit Zafer Şenocaks

migrazine.at: Welche Rolle spielt das Deutschsein oder Türkischsein für Ihr Schreiben?

Zafer Şenocak: Identität spielt überhaupt keine Rolle für mein Schreiben, für das Schreiben überhaupt. Ein Autor schreibt aus seiner Biografie heraus, und je nachdem, wie diese Biografie geformt ist, ist auch sein Schreiben geprägt. In meinem Fall gibt es in meiner Biografie natürlich deutsche und türkische Kindheitsspuren, die sich in meinem Schreiben reflektieren. Aber auch meine ausgedehnten USA-Aufenthalte und die Diskussionen, die ich dort hatte, haben mein Schreiben mitgeprägt. In meinem Fall ist die Sprache doppelt angelegt, denn ich schreibe sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch. Daher bin ich beides, ein deutschsprachiger und ein türkischsprachiger Autor.

Unterscheiden sich der deutsch- und der türkischsprachige Autor?

Eigentlich nicht. Leser meiner Bücher, die in beiden Sprachen zuhause sind, sagen mir, dass sie keine Unterschiede wahrnehmen, dass sich mein Stil gleich bleibt. Ich bin der gleiche Schriftsteller in beiden Sprachen. Thematisch mag es da vielleicht einige Unterschiede geben. So habe ich auf Türkisch keine Großstadtgedichte geschrieben, sondern nur auf Deutsch. Es gibt auf Türkisch eine andere Kindheits-Erinnerungsebene als auf Deutsch, weil es unterschiedliche Erinnerungen gibt. In der Prosa jedoch bleibt sich das thematisch gleich.

Meine Themen sind ja Biografien als solche, bruchstückhafte Biografien, die verschiedene Lebensmomente widerspiegeln, die aus mehreren widersprüchlichen Teilen zusammengesetzt sind. Und ich versuche, dies in einer Puzzle-artigen literarischen Form umzusetzen, wie das etwa in "Gefährliche Verwandtschaft" geschehen ist, oder auch in den Erzählungen in "Der Mann im Unterhemd". Jedes Buch hat dabei aber seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Figuren, seine eigene Sprache. Dabei ist es völlig unabhängig, in welcher Sprache das geschrieben ist.

Mich interessiert das Bruchstückhafte der Biografien: Wie kommt es, dass ein Mensch von Berlin nach Istanbul geht, was hat er dort erlebt, was hat ihn dazu gebracht? Die Übertragung in die literarische Form geschieht bei mir entgegen dem derzeitigen Trend, der zurück zum großen Erzählen in einem Wurf geht, der eigentlich ein regressiver Trend ist. Eine Schreibweise, die an den Realismus des 19. Jahrhunderts angelehnt ist, kann unser Leben, die Zusammenhänge, in denen wir stecken, nicht abbilden. Mein Schreiben hat dagegen eher Reminiszenzen an die Moderne, in dem Sinne, dass es die Zersplitterung des modernen Menschen thematisiert und dafür entsprechende Formen sucht.

Über den Mythos Ihres eigenen Schreibens sagten Sie einmal, er entstünde "am Hauptbahnhof des Eros". [1] Welche Rolle spielen Religion und Sexualität in Ihrem Schreiben?

Religion und Sexualität kreuzen sich in dem Begriff der Hingabe, die beide Bereiche zusammenbringt. Besonders in der islamischen Mystik wird die Hingabe zu Gott erotisiert, das ist ein sehr spannendes Thema. Diesen Bezug herauszuarbeiten, war für mein Schreiben von Bedeutung: Was ist das für eine Hingabe? Wie äußert sie sich? Wo sind die Grenzen zwischen Sexualität und mystischer Gottesnähe?

Dabei geht es nicht etwa um so eine Art "Blümchenhingabe", keine naive Gottesliebe, sondern darin steckt auch sehr viel Gewalt, darin kommt ein Machtverhältnis zum Ausdruck. Das hat mich interessiert. Sexualität spiegelt Gewalt, und letztendlich geht es um die Macht Gottes auf der Erde, und wie sie überwunden wird in der Mystik, bei der es ja um die Aufgabe des Ich in dem Geliebten geht. Das ist also ein Gegenmodell zur Gesetzesreligion, aber auch zu einem ausschließlich auf Rationalität bezogenen Menschenbild.

Einige Figuren in Ihrem Werk sind zwischengeschlechtlich. Welche Bedeutung hat der Hermaphrodismus in diesem Kontext?

Diese zwischengeschlechtlichen Figuren lassen sich sicherlich wieder im Kontext der Hybridität deuten. Besonders in "Der Erottomane" ging es mir dabei darum, festgesetzte Grenzen aufzulösen, also auch Gegensatzpaare wie Mehrheit – Minderheit, Norm – Abnorm, männliche und weibliche Identität zu verschieben. Es geht da um Entgrenzung schlechthin: Wie sind die Geschlechter jenseits ihrer Grenzen zu verstehen?

Auch da geht es wieder um bruchstückhafte Identitäten, ohne das jedoch in den sozio-politischen Dimensionen zu sehen. Diese Identitäten sind nach innen versetzt, wie überhaupt Sexualität als innerbiografische Angelegenheit zu sehen ist. Man kann Migration auch entlang einer inneren Biografie deuten, entlang von Sexualität, von inneren Anschauungen, von Sehnsucht, Träumen. Darum geht es häufig in meinen Texten.

Istanbul und Berlin spielen in Ihrer "Metropolen"-Literatur eine große Rolle, ebenso wie die USA. Welche Rolle spielen diese Topografien in Ihren Büchern?

Die USA, also Nordamerika, sind in "Die Prärie" eher symbolhaft als Fluchtpunkt gestaltet, da geht es ja weniger um Orte wie New York. "Die Prärie" ist in den 1990ern entstanden und ähnelt etwas dem, was Italien für die 1968er war. Insgesamt sind Großstädte wie Berlin und Istanbul für mich hochinteressante Laboratorien, Orte, an denen etwas passiert, wo eine ständige Transformation im Gange ist. Das Laborartige von Berlin hat mich schon immer sehr gereizt, das habe ich auch in meinem längeren Essay "Die Hauptstadt des Fragments" beschrieben: Eine Stadt, in der sich Vergangenheit und Gegenwart so widersprüchlich miteinander verbinden, die nach dem Fall der Mauer zum Kreuzungspunkt zwischen Ost und West wurde, aber auch zur neuen alten deutschen Hauptstadt. Istanbul wiederum ist eine sehr symbolhafte Stadt, auf zwei Kontinenten gelegen, mit ihren historischen Ablagerungen, den Kulturen der Römer, Griechen, Türken. Istanbul ist im Sinne des Wortes eine Weltstadt, ein Kreuzungspunkt der Welt.

Solche Topografien reflektieren meine eigene weltanschauliche Annäherung an diese Orte, wobei die Annäherung an Istanbul als Metropole und Weltstadt erst im Erwachsenenalter kam. Als Kind, das dort einige Jahre gelebt hatte, war ich eher vom Meer geprägt, von den Schiffen – von der Kindheitsstadt Istanbul also, und nicht von der Großstadt.

Neuere Texte von Ihnen gehen jedoch weiter nach Osten: Schon in "Der Erottomane" geht es imaginativ die Seidenstraße entlang. Ist das eine geografische oder eine historische Topografie?

In "Der Erottomane" ist das sicherlich eher eine innere Topografie – es werden ja recht seltsame Reisen dort erwähnt, die gar keine Reisen sind, sondern nur Fantasien einer Reise. Die Orte dort sind sprichwörtlich ver-rückt, aufgelöst. Besonders in der Episode mit dem Antiquar wird deutlich, dass es hier nicht um den Ort selbst geht, sondern um Begriffe wie Ort und Zeit: Hier ist die Zeit in Unordnung geraten. Auch da geht es wieder um die Beschäftigung mit einer in Unordnung gekommenen Welt, mit einem Phänomen der Moderne schlechthin. In dieser in Unordnung geratenen Welt verlieren die klassischen Konstanten wie zum Beispiel "Heimat" ihre Bedeutung, obwohl sie weiterhin noch wirken. Ich schreibe durchaus über Heimat, verwende den Begriff. Und doch sind diese klassischen Konstanten in der Welt, wie sie jetzt funktioniert, nicht mehr wichtig. Das führt zu einer Verunsicherung, zu einer Ver-rückung. Um genau diese Diskrepanz geht es mir, weil sie Spannung erzeugt, und mein Schreiben bezieht das ein.

Das erinnert auch an die Trümmerlandschaft in "Jenseits der Landessprache", einem Text aus dem Band "Zungenentfernung". Spielt Geschichte in Ihren Texten eine Rolle?

Oh ja! Das hat auch mit dem Mauerfall zu tun: Die Welt ist größer geworden, jenseits der Mauer. Westdeutschland ist nicht mehr auf sich bezogen, sondern hat eine große geopolitische Veränderung erfahren, und neue Bezüge zu den Regionen im Osten aufgebaut. Das reflektiert sich in den Texten seit den 1990er Jahren natürlich sehr stark.

Der zusammen mit Berkan Karpat geschriebene "Futuristenepilog" wiederum versammelt große Figuren der Geschichte, Nâzım Hikmet, Atatürk, Rumi, wie in einer großen Erbschau: Welche Figuren der Geschichte haben uns geprägt, welche haben unsere Vergangenheit bestimmt? Übrigens bündelt "Der Mann im Unterhemd" alle diese Themen, da ist schon sehr viel von dem angelegt, was sich in den späteren Romanen wiederfindet.

Welches Verhältnis haben die Figuren zur Geschichte?

Speziell natürlich zur deutschen und türkischen Geschichte, die einen Schwerpunkt bei mir bildet. Meine jüngst entstandenen türkischen Romane sind die Fortsetzung der Linie, die in "Gefährliche Verwandtschaft" angefangen hat. Da geht es ja um zwei Zeitabschnitte zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, anhand zweier unterschiedlicher Familiengeschichten, nämlich einer deutsch-jüdischen und einer türkischen. Wobei die türkische Familiengeschichte, das heißt die Verstrickung des Großvaters in die Deportation und Ermordung der Armenier, im Dunkeln bleiben. Das alles geschieht in einem Rückblick aus dem Berlin der 1990er Jahre.

In "Alman Terbiyesi" geht es um einen jungen osmanischen Offizier, der vom Balkan stammt und um 1900 herum nach Deutschland geht, um sich dort zum Offizier ausbilden zu lassen, dann in Berlin hängen bleibt. Dort übernimmt er die nationalistischen Ideen der Zeit: Er wird also zum deutschen Nationalisten, bleibt aber zugleich ein türkischer Nationalist, und das widerspricht sich gar nicht für ihn. Während des Zweiten Weltkriegs ist er dann in Istanbul und schreibt dort seine Memoiren während des deutschen Russland-Feldzugs (das Buch behandelt die Zeit vom Barbarossa-Feldzug bis zur Schlacht um Stalingrad, also 1941–1943), er vertritt deutsche und türkische Interessen. Das Buch entsteht aus seinem Tagebuch heraus und beschreibt, wie um ihn herum die Welt zerbricht.

"Alman Terbiyesi", das demnächst in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Deutsche Schule" erscheint, wurde 2007 in der Türkei veröffentlicht. Wie wurde der Roman dort aufgenommen?

Der Roman gilt dort als das, was er ist, nämlich ein Buch zwischen Kriegen und Welten, eine zeithistorische Erzählung also. Er wurde recht breit rezipiert und positiv aufgenommen.

Gibt es Unterschiede in der Rezeption Ihrer Literatur in Deutschland und in der Türkei?

Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht! In der Türkei bin ich einfach nur ein Autor, der Bücher schreibt, ein Autor also, der seinen Job macht. Dementsprechend werden die Bücher aufgenommen und bewertet: Wie ist der Stil? Wie funktioniert die Geschichte? Ist es eine gute Geschichte? Da kann auch mal ein schlechtes Buch dabei sein, aber die Kritik an den Büchern betrifft immer nur den Autor, ganz ohne jegliches Label. In Deutschland bin ich dagegen der türkische Autor, "der auf Deutsch schreibt". Nur stimmt das Bild ja nicht mehr, denn ich schreibe auch auf Türkisch. Schon vor einiger Zeit erschien türkische Lyrik von mir, jetzt sind zwei Romane dazugekommen. Das Bild der deutschen Kritik von mir ist unvollständig. Ich schreibe auf Deutsch und auf Türkisch.

Einerseits ist es ja durchaus löblich, wenn die eingewanderte Literatur wahrgenommen wird, andererseits ist der Blick zu sehr verengt; Deutschland und die deutsche Kultur sind nicht nur die einzige Welt. Es gibt auch eine andere Welt, es gibt Unterschiede, Fragmente, Zersplitterungen, Diversität. Das ist eine Kernthematik meines Schreibens. Mein Schreiben richtet sich bewusst gegen die Vorstellung, alles sei konform und gleich.

Dabei hat die deutsche Sprache durchaus eine große Bedeutung für mein Schreiben: Ich liebe diese Sprache und schreibe auch in ihr, lebe in ihr. Aber ich schreibe eben auch auf Türkisch. Auch das ist eine literarische Sprache für mich, in der ich Bilder finde, Geschichten erzähle. Entsprechend gibt es kein Hier oder Dort für mich, auch in der Sprache nicht, das wechselt je nach Umständen. Genauso wenig gibt es ein Hier oder Dort für die heutige Welt: Es gibt nicht mehr die klassische Migration, denn heute ist man hier und dort, an verschiedenen Orten, manchmal gleichzeitig, man ist in Bewegung, ist auf Achse. Und das ist nicht nur ein Jugendphänomen, nein, so leben auch die Rentner. Man denke nur an die Tausenden von Rentnern, die zwischen Deutschland und der Türkei unterwegs sind, auf Achse sind. Diese Bewegung zu beschreiben, ist die literarische Herausforderung für einen Autor.

Gut 20 Jahre nach der deutschen "Wiedervereinigung" haben Sie ein Buch zum Thema "Deutschsein" verfasst – was hat Sie zu dieser "Aufklärungsschrift" bewogen?

Ich wollte das Augenmerk lenken auf eine Mehrheitsgesellschaft, die offenbar große Schwierigkeiten mit der Aufnahme von Einwanderern hat. Das ist ja eine große Zukunftsfrage in unserer globalisierten Epoche. Mein Buch ist auch ein Plädoyer für ein attraktives Deutschland, das sich selbst besser wahrnimmt. Die Frage der deutschen Identität sollte nicht allein durch Abgrenzung gegen andere erspürt werden, sondern durch ein stärkeres Wissen und Bewusstsein um sich selbst.


Interview: Karin E. Yeşilada

Gekürzte Neufassung des Interviews "Die klassische Migration gibt es nicht mehr" für das Online-Dossier "Migrationsliteratur – Eine neue deutsche Literatur?" der Heinrich-Böll-Stiftung, Februar 2009.


Fußnote:

[1] "Mein Schreibmythos war geboren. Er entstand an der Bruchstelle zwischen Ratio und Mystik, am Hauptbahnhof des Eros, wo Kommen und Gehen das Lebenselixier aller ist, die schon lange nicht mehr auf die Ankunft der Engel warten." Zafer Şenocak: "Welcher Mythos schreibt mich?", in: Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation. München: Babel 2001, S. 97–103.size=2>


Zafer Şenocak – Werke (Auswahl):

Atlas des tropischen Deutschland. Essays. Berlin: Babel Verlag 1992.
Der Mann im Unterhemd. Erzählungen. Berlin: Babel Verlag 1995.
Die Prärie. Hamburg: Rotbuch 1997.
Gefährliche Verwandtschaft. Roman. München: Babel Verlag 1998. 2. Aufl. TB 2009.
Der Erottomane. Ein Findelbuch. München: Babel Verlag 1999.
Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation. Essays. München: Babel Verlag 2001.
Übergang. Gedichte 1980–2005. München: Babel Verlag 2005.
das land hinter den buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch. Essays. München: Babel Verlag 2006.
Der Pavillon. Aus dem Türkischen v. Helga Dağyeli-Bohne. Berlin: Dağyeli Verlag 2009.
Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: edition Körber Stiftung 2011.
Deutsche Schule. Aus dem Türkischen v. Helga Dağyeli-Bohne. Berlin: Da ğyeli Verlag, erscheint 2012.size>


Literatur zum Autor:

Karin E. Yeşilada: Zafer Şenocak. Autorenartikel in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). 84. Nlg. 10/06, S. 1–15, A–G.

Michael Hofmann: Die Vielfalt des Hybriden: Zafer Şenocak als Lyriker, Essayist und Romancier. In: M. H.: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: W. Fink Verlag 2006, S. 200–213.

Tom Cheesman/Karin E. Yeşilada (Hg.): Zafer Şenocak. Cardiff: University of Wales Press 2003 (Contemporary German Writers Series). (Studienband)

Zafer Şenocaks wurde 1961 in Ankara als Sohn eines Journalisten und Verlegers und einer Lehrerin geboren, wuchs in Istanbul auf und kam im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern nach München, wo er später Politik, Geschichte und Philosophie studierte. Seit 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände, Erzählungen und Romane in deutscher und türkischer Sprache.