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Neues deutsches Reinheitsgebot: Bier mit Prollfaktor

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von Christian Baron

Heute ist nicht mehr der DDR-Klassenkämpfer mit gestähltem Bizeps und roter Fahne das gängige Zerrbild der einfachen ArbeiterInnen, sondern verwahrloste Unterschichts-Heinis mit prolligen Plauzen und durch Hartz IV aufgestockten Jobs, die ihre Finger nicht vom Alkohol lassen wollen. Dabei war die Kombination von Alkohol und nicht-akademisch gebildeter ArbeiterInnenklasse im öffentlichen Bewusstsein nicht immer ausschließlich mit dem Säufer-Image verbunden. In seinem lesenswerten Buch über "Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland" (Schmetterling Verlag) beschreibt der Historiker Ralf Hoffrogge, wie die Industrialisierung das Bier dereinst als Volksdroge erschuf. Am Arbeitsplatz war der Konsum von Bier sogar ausdrücklich erwünscht, weil es einen langsameren Rausch brachte als der bis dahin übliche Schnaps. Erst um 1900, so Hoffrogge, sei das Getränk wegen neuer Unfallverhütungsvorschriften vom Arbeitsplatz- zum Feierabendbier geworden.

Sozialabbau und pauschaler Faulheitsverdacht

Heute glauben die meisten, in den wenigen verbliebenen ArbeiterInnenkneipen würden nur grenzdebile Alkis ihr Hartz IV versaufen. Daran ist vor allem der umfassende Sozialabbau Schuld, der spätestens mit der Inthronisierung der rot-grünen Schröder-Fischer-Bande 1998 so richtig Fahrt aufnahm. Denn orchestriert haben die Massenmedien diesen politischen Wandel mit einer donnernden Imagekampagne gegen Menschen mit formal geringer bürgerlicher Bildung, denen seither als zentrale Attribute nicht mehr das frühe Aufstehen und das fröhliche Verrichten ebenso harter wie ehrlicher, weil schlecht bezahlter Arbeit attestiert werden, sondern die sich fortan mit einem pauschalen Faulheitsverdacht konfrontiert sehen. Wer miserable Arbeitsbedingungen, unzureichende Entlohnung oder geringe Sozialleistungen beklagt, ist jetzt mehr denn je ein/e SozialschmarotzerIn, der/die sich durch Gejammer den als alternativlos apostrophierten Anforderungen der Leistungsgesellschaft in der globalisierten Wettbewerbsökonomie frech zu entziehen trachtet.

Es ist dies eine kulturalistisch erzeugte und realökonomisch sich niederschlagende Entwicklung, die eine grundsätzlich neue gesamtgesellschaftliche Einschätzung des Konsums von Rausch- und Genussmitteln, ja ein neues deutsches Reinheitsgebot etabliert hat. In diesem Spiel gilt der feierwütige Bierkonsum nicht (mehr) per se als schlecht; es kommt aber unbedingt darauf an, wer wo und wann in welcher Weise trinkt. Das Besäufnis ist nur erlaubt, wenn es ironisch abgesichert erscheint.

Den zum Naturprinzip erhobenen kompetitiven Charakter des Alltags darf dabei niemand grundsätzlich in Frage stellen. Vielmehr muss immer klar sein, dass der Alkoholkonsum dem wochenendlich kontrollierten Eskalieren dient und pünktlich am frühen Montagmorgen wieder brav in den Schoß der neoliberalen Schleimscheißergesellschaft zurückgekrochen wird. Wenn der Rapper Materia in seinem Hit "Kids (2 Finger an den Kopf)" bedauert, dass die jungen Leute heutzutage nicht mehr richtig abfeiern wollen, weil sie nur noch für Job und Karriere leben, dann trifft er mit seiner beißenden Kritik genau diesen Zeitgeist des flexiblen Kapitalismus, in dem gilt: Saufen ist in Maßen erlaubt, wenn es sich als Soft Skill verwerten lässt und deinen Marktwert steigert; wer aber ohne jeden Beziehungsopportunismus trinkt, um einfach das Leben zu feiern oder im negativen Fall dem oftmals beschissenen Alltag zumindest zeitweise zu entfliehen, ist nichts als ein asozialer Nichtsnutz.

Eine Werbeagentur setzt auf den Proll-Faktor

Den meisten hiesigen Herstellern von Gerstensaft ist das freilich noch nicht aufgefallen, denn sie werben noch immer mit den gestriegelten, wohlhabenden und dreitagebebarteten Endvierzigern à la Til Schweiger. Einen anderen Weg geht seit einigen Jahren die Hamburger Brauerei Holsten mit ihrer Biermarke Astra. Die von der Werbeagentur Philipp und Keuntje entwickelten Plakate setzen auf den pejorativen Proll-Faktor.

Da sitzt ein älterer Herr breit grinsend mit wuscheligem Kopf und griffbereiter Fernbedienung nachts um halb drei im Bett; der freie Oberkörper und die bewusst lediglich die Intimzone verhüllende Decke geben den Blick auf Wampe und Brusthaar frei. Die Tapete an der Wand zeugt ebenso von schlechtem Fünfziger-Jahre-Geschmack wie der billige Pressspan-Nachttisch. In der linken Hand hält der Mann das braune Astra-Bierfläschchen, darüber wird in weißen Lettern auf roten Grund mit dem Impotenzklischee des Alki-Arbeiters gespielt: "Im Bett ne Flasche".

Zum Vieh abgekanzelt

Mit solch diskriminierenden Postern brachte es Astra zum Kult im hohen Norden, mit stetig wachsendem Marktanteil im Rest der Republik. Lag das Unternehmen 1998 mit seinem als Proletenplörre verschrienen Produkt noch am Boden, nutzten die Werbefachleute ebendieses Image und entwickelten die Kampagne "Astra. Was dagegen?", dank derer das Bier heute kultiger Marktführer in Hamburg ist. Kein Wunder bei Werbemotiven wie "Der tut nix, der will nur trinken" mit einer grimmigen Schlägervisage samt abgewetzter Lederjacke, Goldkettchen sowie Schaum vor dem vor lauter Bart kaum erkennbaren Maul, das den einfachen Mann auf der Straße ebenso zum Vieh abkanzelt wie die mit "An Tieren getestet" betitelte Reklame, auf der zwei glatzköpfige, tätowierte Muskelprotze mit verschränkten Armen und Bulldoggenblick zu sehen sind.

Glaubt man den Statements von Philipp und Keuntje, ist das Ziel der Kampagne nicht das Verächtlichmachen bestimmter Menschengruppen, sondern das genaue Gegenteil: "Astra", meint etwa der sich Unit-Leiter nennende Andreas Müller-Horn, "war ja mal als Proll-Bier verschrien. Wir haben das umgedreht und sagen: Das ist auch was Gutes, was Ehrliches". Nicht in Frage stellt er dabei, dass die plakatierten Personen im wahren Leben nur vereinzelt vorkommen, denn so weit denken die WerberInnen einfach nicht. Ihr Ziel war es, eine Marktnische zu finden und das jüngere, vor allem akademisch gebildete Publikum zu erschließen.
Wie aber stellt man das an mit einem Produkt, bei dem man an volltrunkene Vokuhila-Vandalen denkt und nicht an hippe Studies? Die Antwort ist republikweit auf Plakaten zu beobachten: Realitätsferne Klischees, die den Menschen über Privatfernsehen und sozialwissenschaftliche Analysen ins Bewusstsein gehämmert werden, kulminieren in als witzig getarnten Tiefschlägen gegen von bürgerlicher Bildung fern Gehaltene.

Asozialer Alltag

Kein Plakat illustriert das so eindrücklich wie das mit der Headline "Die Biergarten-Saison ist eröffnet". Aus der Vogelperspektive sind zwei kleine Balkone zu sehen. Oben steht ein übergewichtiger Glatzkopf im Unterhemd allein am mit unansehnlichen Würsten und Fleisch bedeckten Billig-Grill; links die Astra-Pulle, rechts die Grillzange. Im Hintergrund der halb leere Bierkasten nebst verdorrter Pflanze. Darunter sonnt sich eine irritiert nach oben schielende Person im Bademantel. So, suggeriert die Werbung süffisant, sieht also der Alltag dieser bildungsfernen Unterschicht aus. Zu asozial für den echten Biergarten, aber vom allzu üppigen Hartzen gönnen sie sich Bratwurst und Bier im versifften Plattenbau. Solch ein Leben im Faulheitsluxus kann sich die hart arbeitende Mittelklasse natürlich nicht erlauben, schließlich muss Deutschland tagtäglich gegen China um die Exportweltmeisterschaft kämpfen.

Ins gleiche Horn stößt eine Werbung, die ein Paar mittleren Alters (er mit geschwollenem Gesicht, Schnauzer und verdrecktem Unterhemd; sie mit verlebtem Antlitz, Omafrisur und Fluppe) mit leeren Kaffeetassen in der grau gekachelten Küche zeigt; apathisch aneinander vorbei ins Leere blickend. Dazu der Satz: "Kein Astra, kein Spaß". Das Bild zielt auf die häufige Reaktion der Betrachtenden ab, das stets ein abgrenzend-verächtliches Lachen ist, weil sie dank der Kampagnen gegen Menschen im Sozialleistungsbezug wissen, dass diese elende Unterschichtenbande kollektiv an der Flasche hängt, beim Konsum nicht wählerisch ist und bei zeitweiliger Trockenlegung schlagartig zu einer seelenlosen Zombiecrew mutiert. Sie praktizieren eben den falschen Bierkonsum, von dem sich der richtige Bierkonsum zwingend unterscheiden muss.

Im Stile Sarrazins

Gerade deswegen ist Astra so ungemein erfolgreich bei jungen Menschen, auch jenen aus dem alternativen Spektrum. Die Kampagne trifft den klassistischen Zeitgeist und entspricht zugleich der typischen Haltung der Werbebranche, vermeintlich klare Kante zu zeigen statt Normen zu befolgen, in Wahrheit aber völlig konform zu gehen mit der Riesenkoalition derer, die an hegemoniale Gegebenheiten das Feigenblatt des Tabus heften und mit ihrem in Konzernmedien verbreiteten Dauerbrüllen im Stile von Sarrazins gerade erst wieder die Bestsellerlisten regierenden "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" alle vernünftigen Gegenargumente übertönen.

So gehen Werbung und Politik Hand in Hand in dem Bestreben, diejenigen ihrer positiven Lebenswelt (wie eben des geselligen Biertrinkens) zu berauben, die im gesellschaftlichen Diskurs partout kein Gehör finden und ihnen nur noch die negativ stereotypisierten Elemente übrig lassen. Ihnen geht es nicht etwa darum, vor dem Umstand zu warnen, dass Bier nicht nur ein Genussmittel, sondern auch die tödlichste Droge überhaupt ist. Nein, es geht nur um eines: gesellschaftlich Marginalisierte als mit aufgedunsenen Trinkhallenmienen gestrafte, an ihrem Dummdödeldasein selbst Schuldige darzustellen, um damit eines von mehreren Mitteln zu kultivieren, um die von einer lebensfeindlichen Leistungskultur dominierte Gesellschaft nachhaltig zu disziplinieren.


Dieser (leicht gekürzte) Beitrag erschien bereits in "ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis", Nr. 594, 20.5.2014.


Christian Baronist freier Journalist und promoviert derzeit am Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie an der Universität Trier.