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Fallen der Vielfalt

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von Miltiadis Oulios

Die Autorin der Berliner "tageszeitung" Gabriele Dietze hat in einem Artikel über die Fernsehsendungen "Deutschland sucht den Superstar" und "Popstars" das schöne Wort von der "emotionalen Staatsbürgerschaft" geprägt. Jugendlichen aus Einwandererfamilien werde diese zwar "auf der Ebene der Ausländergesetze, Fremdenfeindlichkeit und des Unterklassenstatus" oft verweigert. In den Castingshows aber können sie sich ganz normal als ein Teil Deutschlands fühlen. Die meisten KandidatInnen und auch die GewinnerInnen dieser Sendungen haben einen sogenannten Migrationshintergrund – und niemand regt sich darüber auf. Im Gegenteil. Der DSDS-Gewinner 2010 war iranischer Herkunft, und es ist normal, weil es normal für die deutsche Gesellschaft ist.

In einem Land, in dem in den 1990er Jahren noch Häuser von MigrantInnen und Flüchtlingen angezündet wurden, ist es ein Fortschritt, dass heutzutage Deutschlands "RTL"-Superstar Merzad Marashi heißt und kein amtierender Spitzenpolitiker mehr auf die Idee käme, vor einer "Durchrassung" der Gesellschaft zu warnen. In den 1990ern tat das etwa noch der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber – heute sind solche Töne "nur" mehr von Ex-Bundesbankern wie Thilo Sarrazin zu vernehmen.
Gleichwohl ist auch dieses Phänomen problematisch, wenn wir fragen: Welche Rolle spielen Medien beim Thema Migration und Bildung? Zunächst einmal ist das Phänomen auf eine gewisse Weise nicht neu. Der Medienforscher Klaus Merten fand in einer Medienanalyse in den 1980er Jahren heraus, dass AusländerInnen am positivsten dargestellt wurden, wenn sie Gäste, SportlerInnen oder KünstlerInnen waren.

Castingshows bedienen weiterhin einen Leistungsmythos gemäß dem naiven, neoliberalen Dogma: Du kannst immer die Nr. 1 werden, wenn du dich anstrengst und deine KonkurrentInnen aus dem Feld schlägst. Diese Ideologie dient als die Begleitmusik zu einer Umverteilung von unten nach oben, die in Deutschland in den vergangenen Jahren stattgefunden hat und von der auch MigrantInnen betroffen sind. Außerdem passt sie zum Integrationsimperativ, den ich kritisch sehe. Denn Integration bedeutet häufig: Forderungen nach kollektiven Rechten von MigrantInnen werden verschoben, hin zu einer Belohnung für individuelle Anpassungsleistung.

Vor allem aber hat das Rollenmodell des migrantischen, deutschen Superstars eine andere fatale Folge. Einerseits erhalten zwar Einwandererjugendliche dort die Möglichkeit, mit ihren künstlerischen Fähigkeiten punkten zu können – auch wenn sie kein Abitur haben, können sie dabei sein. Und sie strömen tatsächlich in Massen zu den Castings. Andererseits aber wird ein falsches Bild davon vermittelt, was Erfolg in der Gesellschaft tatsächlich bringt. Die KünstlerInnenkarriere bietet nur sehr wenigen Platz. Was in der Breite viel mehr Erfolg verspricht, ist eben nicht Singen- und Tanzen-Können, sondern: Bildung.

Migrantische Vorzeigegesichter

Wenn es um die Verantwortung der Medien geht, dann ist es wichtig, dass sie andere Rollenmodelle sichtbar machen, z.B. solche, die für Bildung stehen. Und ebenso, dass sie sich für Einwandererkinder öffnen. Dass eine Person, deren Eltern kaum Deutsch können und einfache ArbeiterInnen sind, das Gefühl hat, er oder sie kann nicht nur LeiharbeiterIn oder SängerIn, sondern auch JournalistIn werden. Aktuellen Studien zufolge gibt es zu wenige JournalistInnen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland. Fast 20 Prozent der Bevölkerung besitzt einen Migrationshintergrund. Über acht Prozent haben einen ausländischen Pass. Demgegenüber sind nur zwei bis drei Prozent der JournalistInnen in Deutschland MigrantInnen. Bei den Zeitungen sind es nur 1,2 Prozent. Circa 80 Prozent der deutschen Zeitungsredaktionen sind monoethnisch.

Medien in Deutschland müssen sich daher das Ziel setzen, ihren Anteil an JournalistInnen mit Einwanderungshintergrund zu erhöhen. Und zwar vor allem solche, deren Eltern nicht der Mittelschicht entstammen und keine AkademikerInnen sind. Zum einen muss das passieren, um neue Rollenmodelle zu schaffen. Zum anderen, um den jungen MigrantInnen der x-ten Generation, die schließlich Abitur machen sollen statt in der Hauptschule zu landen, auch ein weiteres Berufsfeld als Normalität zu eröffnen.

Ein Umdenken findet schon statt. Uns allen sind beispielsweise Dunja Hayali beim ZDF-"heute journal", Ingo Zamperoni im ARD-"Nachtmagazin" oder Asli Sevindim in der "Aktuellen Stunde" des WDR aufgefallen. Der Bayerische Rundfunk hat kürzlich ein Casting organisiert, bei dem er eine/n türkisch-stämmige/n RedakteurIn und ModeratorIn für eine neue Kindersendung sucht.

Die Initiative "Neue deutsche Medienmacher", ein Zusammenschluss von vorwiegend migrantischen JournalistInnen in Deutschland, fordert aber, dass sich nicht nur bei den Vorzeigegesichtern, sondern auch in der Breite etwas ändern muss. Und dass vor allem auch MigrantInnen auf Leitungspositionen in den Redaktionen gehören. Gerade bei den großen Fernsehanstalten gibt es mittlerweile Programme, die darauf abzielen, migrantische NachwuchsjournalistInnen zu rekrutieren. Der WDR organisiert jedes Jahr die Talentwerkstatt "grenzenlos", woraus immer wieder TeilnehmerInnen Volontariate erhalten. Das ZDF besetzt Trainee-Stellen bewusst mit MigrantInnen. RTL bietet mit dem Com.mit-Award SchülerInnen die Möglichkeit, das Fernsehgeschäft kennenzulernen. Die Berliner "tageszeitung" hat für MigrantInnen in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Volontariatsstellen geschaffen. Die Axel-Springer-Akademie betont neuerdings, dass BewerberInnen mit interkulturellen Kompetenzen erwünscht sind. Der WDR sagt, mittlerweile hätten zehn Prozent der Neueinstellungen Migrationshintergrund – laut Peter Kloeppel sei dies 2010 auch bei zehn Prozent der BewerberInnen für die RTL-Journalistenschule der Fall gewesen.

Es gibt auch andere Ideen, was Medien tun können. Der Leiter der Axel-Springer-Akademie hatte, als ich vor drei Jahren mit ihm über dieses Thema sprach, vor, dass sein Haus Schülerzeitungsprojekte in Einwandererstadtteilen initiieren will. In die Tat umgesetzt wurde das aber noch nicht.

Angebot gesucht

Auch was auf Integrationsgipfeln verlautbart wird und was danach in der Praxis passiert, sind oft zwei Paar Schuhe. Es gibt wohl kaum eineN ChefredakteurIn einer deutschen Zeitung, der oder die nicht in einem Leitartikel Integrationsbemühungen von ZuwandererInnen eingefordert hätte. Wenn es aber darum geht, selbst als Zeitung etwas dafür zu tun, wird die Integrationsforderung oft abgewiesen. Im "Nationalen Integrationsplan" der Bundesregierung steht zwar, es sei erforderlich, Maßnahmen und neue Wege zur Verstärkung der Ausbildung von JournalistInnen mit Migrationshintergrund zu schaffen. Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), der mit am Tisch saß, wollte das aber partout nicht unterschreiben. Der Zeitungsverlegerverband hat auch deshalb nichts in die Richtung getan, weil das Thema dort nicht auf der Agenda oben steht und viele Zeitungen, die er vertritt, das genauso sehen. Dabei haben die Zeitungen eine besondere Bedeutung – einerseits, weil dort NachwuchsjournalistInnen das journalistische Basis-Handwerk lernen können. Andererseits, weil sie sich tatsächlich überlegen müssen, wie sie mehr MigrantInnen als LeserInnen gewinnen können.

Ein weiteres Feld sind die Universitäten. Das Institut für mediale Integration an der Universität Dortmund wollte 2008 einen journalistischen Qualifizierungskurs einrichten, in Kooperation mit Medienhäusern. Den Kurs sollten Studierende mit Migrationshintergrund und jeglicher Fachrichtungen gleich nach ihrem Abschluss belegen können. Darauf haben sich 112 AbsolventInnen beworben. Der erste Kurs für 2008 musste aber abgesagt werden, weil letztlich das Geld fehlte. Professor Ulrich Pätzold hatte nicht gedacht, "dass eine Finanzierung bei der Konjunktur dieses Problems so schwierig werden würde".

Häufig sagen Medienverantwortliche noch, es hätten sich keine oder zu wenig BewerberInnen mit Migrationshintergrund gemeldet. Die beschriebenen Beispiele lehren aber: Wenn Angebote gemacht werden, gibt es auch InteressentInnen. Ein weiteres Argument lautet, dass die sprachliche Qualifikation der InteressentInnen nicht gut genug sei. Ohne entsprechende Erfahrungen in Abrede stellen zu wollen, muss man doch darauf hinweisen, dass damit auch rassistische Klischees bedient werden. Es wird unterstellt, MigrantInnen seien per se nicht qualifiziert und nur deswegen unterrepräsentiert – die Medien selbst hätten keine Verantwortung.

"Zu doof"?

Dies deckt sich mit einem Grundproblem der Bildungsdebatte in Deutschland: Migrantenkinder werden hauptsächlich als defizitär diskutiert. So wie auch die Darstellung von AusländerInnen in deutschen Medien generell problematisch ist, wie die Schweizer Marktforschung "Mediatenor" für den Zeitraum von 1998 bis 2007 untersucht hat. Berichte über Innenpolitik, Kriminalität und Terrorismus machten den Hauptteil aus. Im Schnitt berichteten ein Drittel der Beiträge negativ über AusländerInnen und nur zehn Prozent positiv – der Rest neutral. Am negativsten berichteten "Sat1News", am positivsten "Die Zeit".

Hingegen berichten Medien seltener über Diskriminierungserfahrungen junger MigrantInnen. Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn kommt zu dem Ergebnis: Junge Menschen mit Migrationshintergrund haben auch bei gleichen Schulabschlüssen und Schulnoten bis zu 20 Prozent geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Es gibt zudem zahlreiche Untersuchungen, die nachweisen, dass Kinder aus gebildeten respektive deutschen Elternhäusern auch bei unterdurchschnittlichen Leistungen eine Gymnasialempfehlung erhalten, während es sich bei Kindern aus unteren Schichten respektive Einwandererfamilien umgekehrt verhält.

In der Medienberichterstattung hat sich das Stereotyp des Jugendlichen aus der "bildungsfernen Schicht" etabliert. Wenn aber von "Schulen im sozialen Brennpunkt" gesprochen wird, sind damit oft "Schulen mit einem hohen Ausländeranteil" gemeint. Statt die Verhältnisse zu problematisieren, werden die Menschen in diesen Verhältnissen problematisiert. Der Grundschullehrer und Bildungsforscher Thomas Quehl analysiert in einer aktuellen Veröffentlichung: "Die vom Bildungssystem hervorgebrachten Ungleichheiten dienen als Anknüpfungspunkte für gesellschaftlich vorhandene rassistische Bilder und Zuschreibungen." [1] An der Produktion dieser Bilder und Zuschreibungen wirken auch die Medien mit. LehrerInnen bedienen sich wiederum – bewusst oder unbewusst – dieser Bilder. Medien tragen nicht alleine, aber eine besondere Verantwortung, diesen Kreis zu durchbrechen.

Während selbst die Vereinten Nationen Deutschland mittlerweile wegen der systematischen Benachteiligung aufgrund der frühen Selektion im Schulsystem kritisieren, hat im Jahr 2010 kein einziges der politischen Talk-TV-Magazine auch nur einmal die beschriebene Diskriminierung im Schulsystem zum Thema gemacht. Gleichwohl gab es mehrere Sendungen mit den rassistischen Thesen des Ex-Bundesbankers und Buchautors Thilo Sarrazin – von "hart aber fair" bis zu "Stern TV", ebenso wie Sendungen zur Frage, wie viele EinwandererInnen respektive wie viel „Islam“ Deutschland vertrage oder zur "Deutschenfeindlichkeit". Ging es um Bildung, erschöpften sich die Aufhänger darin zu fragen, ob die (migrantische) Jugend "dumm" (Maybritt Illner) oder "zu doof" (Anne Will) sei. Gerade bei den meinungsbildenden Leitsendungen ist diese Einseitigkeit bei der Themensetzung nicht hinzunehmen.

Neue Vielfalt, alte Strukturen

Nun ist es tatsächlich so, dass sich die Medien selbst ändern. Sowohl Öffentlich-Rechtliche als auch Private wollen und müssen EinwandererInnen und ihre Nachkommen auch als Zielgruppe binden. "Was aber, wenn der entpolitisierte Multikulturalismus die Ideologie des derzeitigen globalen Kapitalismus wäre?", fragt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek. Es wäre also fatal, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre und nur die deutschen Redaktionen etwas "bunter" werden sollten. Die EinwandererInnen sind in der Bundesrepublik unterschichtet und die Arbeiterschicht ist damit ethnisiert worden. Die Haushalte mit Einwanderungshintergrund in Deutschland sind drei Mal so häufig von Armut betroffen sind wie andere Haushalte. Und wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Sommer 2010 mitteilte, wächst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter.

Ob mit der neuen "Vielfalt" automatisch ein "anderer Blick" in die Medien einzieht, ist nicht ausgemacht. Die aktuellen Debatten um die Wissensgesellschaft kreisen um die Frage, dass der sogenannte "kognitive Kapitalismus" das Leben selbst, die Erfahrungen und Wünsche der Menschen selbst zu Geld machen, in neue Produkte zu verwandeln versucht. Für unseren Fall bedeutet das, dass dieser Kapitalismus auch die migrantischen Subjektivitäten mit ihrem Wissen in Wert setzen möchte und sie zugleich ausbeutet, indem er die Arten des Ein- und Ausschlusses definiert. Eine Politik, die dieser Macht entgegenzusetzen wäre, müsste beim Einbringen von migrantischem Wissen "übers Ziel" hinausschießen.

Wie könnte das aussehen? Lassen Sie mich das mit einem Erlebnis einer türkischstämmigen Kollegin illustrieren: Bei der Produktion eines Fernsehberichts über "Islam in deutschen Schulbüchern" bestand sie darauf, nicht nur Bilder von anonymen kopftuchtragenden Frauen zu benutzen. Sie ist Muslimin, trägt kein Kopftuch und wollte nicht die bekannten Fremdheitsklischees reproduzieren. Nach Produktionsende schnitt der mitarbeitende Redakteur jedoch ohne ihr Wissen diese Bilder wieder in den Bericht. Daraufhin nahm sie den Hut.

"Übers Ziel hinauszuschießen" würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass sie nicht nur ihren türkischen Namen im Abspann sehen konnte, sondern dass sie sich durchsetzen könnte. Übers Ziel hinausschießen würde in der Berichterstattung über den Hamburger Schulstreit bedeuten, die Integrationsverweigerung der Hamburger Oberschicht als ebensolche zu thematisieren. So ein Bericht würde die These manifestieren: Niemand sollte der Vorstellung anhängen, eine Gesellschaft ohne MigrantInnen wäre bestens integriert.


Fußnote:

[1] Broden, Anne/Mecheril, Paul (Hg.) (2010): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zur Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: Transcript.

Miltiadis Ouliosist freier Journalist und lebt in Düsseldorf. Er ist als Autor für den WDR-Hörfunk und Tageszeitungen tätig und moderiert das deutsch-griechische Magazin "Radiopolis" im Funkhaus Europa. Außerdem engagierte er sich im Rahmen des antirassistischen Netzwerks kanak attak. Seit 2007 untersucht er die Repräsentanz migrantischer JournalistInnen in deutschen Medien. Weitergehende Informationen und Quellenangaben finden sich in folgenden Publikationen: Oulios, Miltiadis (2009): Weshalb gibt es so wenig Journalisten mit Einwanderungshintergrund in deutschen Massenmedien? Eine explorative Studie. In: Geißler, Rainer /Pöttker, Horst (Hg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland, Band 2: Forschungsbefunde. Bielefeld: Transcript. Oulios, Miltiadis (2010): Journalisten mit Einwanderungsgeschichte in deutschen Massenmedien – unterrepräsentiert oder auf dem Vormarsch? In: WISO-Diskurs: Zur Rolle der Medien in der Einwanderungsgesellschaft. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik. pdf-Download: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/07394-20100820.pdf.