fokus

Die Kulturalisierung der Psyche

share on facebookprint/drucken
von Paul Mecheril

"Wenn ein Südländer erkrankt, steht ihm die ganze Familie bei. Der Bezug zum Körper ist sehr stark, ohne Körper geht gar nichts, deswegen wird auch für 'gutes Essen' gesorgt. Die südländischen Frauen sind beim Einkaufen sehr pingelig. Fett wird gemieden, die Farbe muß schön sein, Obst und Gemüse müssen frisch sein. Daß nur einmal am Tag gekocht und abends kalt gegessen wird, ist eine Übernahme der deutschen Gewohnheiten, die auch nur deswegen geschehen ist, weil man selten gemeinsam ißt. Diese Veränderung bedeutet für einen Südländer eine große Einschränkung, denn beim Essen wird genossen, und es findet Kommunikation statt. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Südländer sehr häufig am Magen-Darm-Trakt erkranken […]". [1]

Dieser Auszug aus einem mit "Psychologische und sozio-kulturelle Aspekte in der Diagnostik und Beratung ausländischer Arbeiterfamilien" überschriebenen Text stammt aus einem der ersten Bücher im deutschsprachigen Raum, die sich mit dem Thema "Ausländerberatung" beschäftigt haben, und verdeutlicht beispielhaft einige grundsätzliche Probleme in der auf "kulturell Andere" bezogenen psychosozialen Praxis. Denn nicht nur haben wir es hier mit einer einseitigen Fokussierung von Problemen des "Südländers" zu tun – die angebotene Erklärung für die Magen-Darm-Probleme "des Südländers" wird ganz darauf beschränkt, dass es dem Südländer schwer falle, "deutsche Gewohnheiten" zu übernehmen. Psychosomatische Beschwerden sind hier Ausdruck der Probleme bei der Übernahme der neuen kulturellen Gepflogenheiten.

Unangemessen ist diese Erklärung nun nicht, weil wir davon ausgehen müssen, dass es keine Konflikte in kulturellen Überschneidungssituationen gibt, sondern weil hier die Belastung ("Magen-Darm-Erkrankung") schlichtweg in den Zusammenhang eines Kulturkonfliktes gestellt und alternative Erklärungen nicht zugelassen werden. Der knappe Hinweis, dass die Familie nur selten gemeinsam esse, weist aber darauf hin, dass die Anwesenheiten der Familienmitglieder zu Hause zeitlich versetzt stattfinden. Es ist naheliegend anzunehmen, dass diese Zeitstruktur des Aufenthaltes durch Arbeitsbedingungen wie die Schichtarbeit "des Südländers" – oder sagen wir jetzt besser: des Familienvaters und "Gastarbeiters" – diktiert wird. Mit dieser Möglichkeit eröffnet sich ein ganz anders Spektrum der Erklärung der Magen-Darm-Probleme.

Wer spricht über wen?

In dem "Südländer"-Beispiel sind mehrere Momente enthalten, die meines Erachtens kennzeichnend für eine übliche Art des – auch psychosozialen – Redens über Differenz ist.

Ein zentraler Punkt ist: Der Ort, von dem gesprochen wird, wird nicht markiert. In der Rede über "Südländer", "Menschen mit Migrationshintergrund" und "Ausländer" ist die SprecherInnenposition nicht thematisiert. Und weil die SprecherInnen und ihre Positionen nicht thematisiert werden, erscheint die Rede über die "Südländer" oder über die "Ausländer", über die "Menschen mit Migrationshintergrund" als quasi objektive Rede. So ähnlich haben Männer früher über Frauen gesprochen. Und so ähnlich sprechen diejenigen, die sich als Menschen ohne Behinderung verstehen, über jene, die als Menschen mit Behinderung gelten. Darin spiegeln sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse wider. Und eine Figur, in der sich Herrschaftsverhältnisse artikulieren, ist die Selbstverständlichkeit, über bestimmte Gruppen zu reden, ohne zu reflektieren und zu markieren, wer da eigentlich befugt ist, über die Anderen zu sprechen, und wodurch sich diese Legitimierung auszeichnet.

Als Elend der gängigen Interkulturellen Pädagogik hat Franz Hamburger die Einseitigkeit dieser Sprech- und Repräsentationsverhältnisse bezeichnet: "Es gibt unzählige Berichte über Besuche von Kindergartengruppen in Moscheen und ausländischen Familien, aber keine Berichte über didaktisch analog konzipierte Besuche in Kirchen und deutschen Familien, um deren Kultur kennenzulernen. Das ist immer noch das Elend der Interkulturellen Pädagogik." [2]

Im Diskurs über Trans- und Interkultur wird in der Regel ein Aspekt stillschweigend vorausgesetzt, nämlich dass "wir" über "sie" reden. Professionalität ist wie selbstverständlich an die Mehrheitsposition geknüpft. Sobald es Mehrheitsangehörige mit Minderheitenangehörigen zu tun haben, legen dominante Diskurse "kulturelle Differenz" nahe. Da diese Nahelegung einseitig ist (ein Elend), also kaum thematisiert wird, wie Professionelle mit "nicht-österreichischem" Hintergrund kulturell mit "ÖsterreicherInnen" klarkommen, werden im inter- und transkulturellen Diskurs die Anderen kulturell objektiviert. "Kultur" ist ein Werkzeug der Vergegenständlichung der Anderen, Instrument ihrer Entsubjektivierung. Dies korrespondiert der gesamtgesellschaftlichen Schwierigkeit, "Andere" als Subjekte anzuerkennen. Der in den interkulturellen Milieus heimische Paternalismus beispielsweise bedarf des entsubjektivierten Status der Anderen. In gewisser Weise brauchen "wir" die Anderen, um uns darüber klar zu werden, dass wir es gut meinen.

"Kulturelle Deppen"

In der Rede über die Anderen, die Südländer, die AusländerInnen, die "MMM"s (Menschen mit Migrationshintergrund), in dieser verobjektivierenden, vergegenständlichten, entgegensetzenden Rede, in der wir über sie sprechen, wird das Wesen der Anderen – eine Essenzialisierung – erfunden. Der Hinweis auf kulturelle Differenzen suggeriert, dass die Anderen ein bestimmtes kulturelles Wesen, eine kulturelle Identität besitzen. Und häufig, wie es auch bei unserem Beispiel der Fall ist, wird aus dieser kulturellen Identität eine Art kulturelles Gefängnis. Die Rede über kulturelle Differenz und interkulturelle Kompetenz, oder zum Teil auch über Transkulturalität, erweckt den Eindruck, Menschen seien Gefangene ihrer kulturellen Zugehörigkeiten – "cultural dopes", kulturelle Deppen. Muslime, die nicht anders können, als muslimisch zu sein; aus Afrika stammende Menschen, die nicht anders können, als "afrikanisch" ("Afrika"!?) zu sein.

Dieses essenzialistische und deterministische Verständnis von "kultureller Identität" ist eine überaus einseitige Beschreibung des Verhältnisses von "Kultur" und "Individuum", das weder in der Lage ist, "Individuen" als durch Fremdes und Eigenes bestimmt zu verstehen, noch das Verhältnis von "Kultur" und "Individuum" in ihrer Spannung und ihrem Widerspruch zur Geltung zu bringen, noch schließlich die grundsätzliche Möglichkeit des/der Einzelnen berücksichtigen kann, sich aus kulturell markierten Rahmungen abzusetzen.

Kulturalisierung sozialer Verhältnisse

Der Diskurs über das "Interkulturelle" ist Ausdruck und Bestätigung einer Kultur (!), in der eine hohe Bereitschaft vorhanden ist, auf Migrationsphänomene explanativ und interventiv mit "Kultur" und "kultureller Differenz" zu reagieren. Immer dann, wenn es um MigrantInnen geht, geht es in psychosozialen Diskursen und Praxen auch schnell um "Kultur": Wenn – um es zugespitzt zu formulieren – die Beratungstür aufgeht und eine türkische Familie den Beratungsraum betritt, ist gleich die Sorge bedeutsam, ob es eine negative Konsequenz haben wird, dass ich, der in der Regel der Mehrheit zugehörige Berater, die letzte Einheit in interkultureller und transkultureller Kompetenz versäumt habe! Angst breitet sich aus.

Nur geschieht diese Kulturalisierung sozialer Verhältnisse (sowohl der Lebenssituation der Klientel als auch der Beziehung zwischen professioneller Person und Klientel) vor allem und insbesondere in einem Milieu, das immer schon ein "kulturaffines" Milieu gewesen ist – in unserem bildungsbürgerlichen, im bildungskulturellen Milieu. Wir lesen Belletristik, gehen in Konzerte, machen nicht nur Reisen, sondern sprechen auch über deren Bildungsqualität, lesen das Feuilleton und stehen für kulturelle Vielfalt ein! Die kulturell "Anderen" ermöglichen somit den fantastischen Raum, in dem jene, die einem kulturoffenen Milieu zugehören, ihre Kulturaffinität verwirklichen können. Diese instrumentelle Zuschreibung von kultureller Differenz schließt an westlich-koloniale Praxen an, die Andere für eigene Zwecke imaginieren.

Privilegierte Professionalität

Der britische Theoretiker Stuart Hall schrieb einmal, die weißen EngländerInnen seien nicht rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wüssten, wer sie sind. Dies macht letztlich die politische und auch kulturelle Tiefendimension deutlich, mit der wir beschäftigt sind. Es geht um die Frage des symbolischen Wirs und um seine Veränderung. Viele interkulturelle Angebote stellen Bestätigungen, Stärkungen und Reproduktionen der hegemonialen Unterscheidung zwischen Wir und Nicht-Wir dar. Sie bestätigen die Fremdheit der Anderen und damit die Nicht-Fremdheit der Nicht-Anderen. Diese Produktion von Wir und Nicht-Wir geschieht in der Regel nicht willentlich und wird in der Regel nicht allein von moralisch verdorbenen Menschen vorgenommen. Diese Unterscheidung ist vielmehr alltäglich. Sie prägt Normalität, auch auf der Ebene von Identitäten und Biografien.

Das besagt, dass psychosoziale Professionalität mit Hilfe von "Kultur" zur Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse beiträgt, mindestens beitragen kann, in denen "die Anderen" erfunden und symbolisch und faktisch ausgeschlossen werden. Die erste Aufgabe, noch vor dem Verstehen der Anderen, wäre somit eine selbstkritische Aufklärung dieses reproduktiven Beitrags. Die professionellen Strukturen, die Semantiken, die Ausbildungsgehalte, diskursiven Verstrickungen, das dominanzkulturelle Unterbewusste wäre aufklären. Die zweite Aufgabe, auch noch vor dem Verstehen der Anderen, wäre es, Strukturen im professionellen Handeln zu ermöglichen, die es den Anderen ermöglichen, als Subjekte zu handeln: "Wenn das Verstehen nicht mit einer uneingeschränkten Anerkennung des anderen als Subjekt einhergeht, dann besteht die Gefahr, daß dieses Verständnis zum Zwecke der Ausbeutung, des ‘Nehmens‘ genutzt wird; das Wissen wird dann der Macht untergeordnet." [3]

Die Ermöglichung des Subjektstatus Anderer scheint mir eine angemessene Leitlinie selbstkritischer Professionalität in der von Dominanzverhältnissen geprägten Migrationsgesellschaft zu sein – erst danach können wir uns über kulturelle und transkulturelle Differenzen verständigen.


Gekürzte und redigierte Fassung des Vortrags "Die Kulturalisierung der Psyche: Psychologie im Migrationskontext. Konstruktion von Fremdheit und die Konsequenzen für die psychosoziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft" von Paul Mecheril im Rahmen der Tagung "Ansätze zur Beschreibung und Überschreitung von KULTURkonzepten in der psycho-sozialen Arbeit" der PsychTRANSkultAG Tirol im April 2009.


Fußnoten:

[1] Cicconcelli-Brügel, S. (1986): "Psychologische und sozio-kulturelle Aspekte in der Diagnostik und Beratung ausländischer Arbeiterfamilien. In: Jaede, W./Portera, A. (Hg.): Ausländerberatung. Kulturspezifische Zugänge in Diagnostik und Therapie. Freiburg i. B.: Lambertus, S. 13–30.

[2] Hamburger, F. (2005): Der Kampf um Bildung und Erfolg. Eine einleitende Feldbeschreibung. In: Hamburger, F./Badawia, T./Hummrich, M. (Hg.): Migration und Bildung. Über das Verhältnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7–22.

[3] Todorov, T. (1985): Die Entdeckung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Paul MecherilUniversitätsprofessor an der Fakultät für Bildungswissenschaft, leitet das Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck. Link Homepage