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Wohnen in der Krise – Wohnen im Härtetest

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von Cornelia Dlabaja
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©Cornelia Dlabaja
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Home sweet home oder neues Biedermeier für alle? Wohl kaum, selten werden soziale Ungleichheiten so sichtbar wie in der aktuellen Krise die mit einer Teuerung der Lebenserhaltungs- und Wohnkosten einhergeht. Ähnlich einem Belastungstest werden Wohnräume dieser Tage so intensiv genutzt wie sonst nie. Die Pandemie und der Ukrainekrieg führt uns die Achillesferse der Globalisierung vor. Für viele wird der eigene Wohnort zum Nabel der Welt. Während der Lockdowns wird die Wohnung zum Arbeitsort, Betreuungseinrichtung und Schulstandort. Dieses Zurückgeworfensein in die eigenen vier Wände hat für jede:n von uns unterschiedliche Auswirkungen und differenziert je nach Arbeits- und Wohnsituation, nach Einkommen und damit der sozialen Stellung. Menschen in prekären Lebenslangen und Armutsgefährdete sind aktuell besonders betroffen von der Krise und der aktuellen Teuerungswelle1. Während die einen auf der Suche nach Hefe sind, um zuhause selbst Brot zu backen, reihen sich die anderen in die Schlange bei der Ausgabe kostenloser Lebensmittel durch karitative Einrichtungen ein. Betroffen von dieser Situation sind oft Menschen die von der Mitte der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Es stellt sich die Frage was wohnen heute für uns bedeutet und wie sich die Bedeutung historisch gewandelt hat.

Werfen wir zuerst einen Blick darauf, wie sich Bedeutung und Praktiken des Wohnens in Wien historisch gewandelt haben. In der vorindustriellen Gesellschaft war der Wohnstandort, gleichzeitig die Behausung, in der man lebte, Ort der Reproduktion, der Arbeit, an dem man Dinge produzierte und die Wirkungsstätte der bäuerlichen Erwerbstätigkeit. Erst seit der Phase der Industrialisierung wurde in Europa Erwerbsarbeit und Wohnen vor allem in der Stadt zunehmend zu getrennten Bereichen, auf Grund der sich wandelnden Produktionsprozesse. Wobei diese Trennung auch damals nicht für alle galt, wie sich am Beispiel Wiens zeigt. Wer Viktor Adlers „Lage der Ziegelarbeiter“ gelesen hat, weiß, dass viele Fabrikarbeiter:innen in den Produktionsstätten unter unmenschlichen Bedingungen schlafen mussten und die Arbeiterinnen dort ihre Kinder gebären mussten (Adler 1888). Eine durchschnittliche Arbeiterfamilie lebte in Wien zur Zeit der Jahrhundertwende auf ca. 25m2 im Familienverbund, dass heißt Vater, Mutter und Kinder, die sich meist ein Bett teilten. Hinzu kamen oftmals sogenannte Bettengänger, die sich für ein paar Stunden einen Schlafplatz anmieteten. Der Blick in die Geschichte zeigt uns, dass die Herausbildung der Privatsphäre mit der Entstehung des Wohnens in der Moderne verbunden ist. Eine Verbesserung der Wohnsituation der breiten Massen in Österreich fand erst wesentlich später, in der Zeit der ersten Republik, statt. Sie wurde von sozialen Bewegungen erkämpft, die sich für lebenswerte Wohn- und Arbeitsbedingungen einsetzten (Foltin 2011). Bekanntestes Beispiel ist das Rote Wien und der damit verknüpfte kommunale Wohnbau, der Familien ermöglichte, in hygienisch verbesserten Wohnverhältnissen zu leben, dazu zählen neben fließendem Wasser, auch Strom und Gas, sowie eine standardisierte Kücheneinheit. Diese Form des Massenwohnbaus ging einher mit einer Formalisierung und Regulierung und führte in Wien zu einem aktuellen Bestand von 220.000 Gemeindebauwohnungen und 200.000 geförderten Wohnungen. 

Das Recht auf Wohnen ist im Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights2 festgehalten. Der Zugang zu leistbaren Wohnraum ist für Menschen, die in Österreich arbeiten, aber keine österreichische Staatsbürgerschaft haben von jeher systematisch erschwert. Insbesondere Menschen die seit weniger als zwei Jahren hier leben sind traditionellerweise auf Grund der Vergabekriterien im geförderten und kommunalen Wohnbau gezwungen, in Wien in sogenannten Garconniere Wohnungen auf 40m2 zu wohnen, u.a. in Grätzeln wie dem Wiener Brunnenviertel in Ottakring (Dlabaja 2016).  Eine Initiative die sich für leistbares Wohnen und gegen Mietwucher für Migrant:innen einsetzt ist das Café International, das seit 1983 Wohnberatung im Viertel macht und auch ein Wohnheim für Migrant:innen beherbergt. Der ungleiche Zugang zu gefördertem Wohnraum für Personen, die noch nicht fünf Jahre in Österreich leben, führt dazu, dass viele Familien in sogenannten Ankunftswohnungen auf engem Raum wohnen und bei privaten Vermieter:innen oftmals überteuerte Mieten zahlen. Die Vergabekriterien des Wiener Wohnservice3 besagen, dass man mindestens zwei Jahre durchgehend Hauptwohnsitz gemeldet sein muss in Wien und fünf Jahre seinen Lebensmittelpunkt in der Stadt haben muss. Das Wohnservice ist sowohl für die Vergabe von Gemeindebauwohnungen als auch eines Teils der geförderten Wohnungen zuständig. 800€ für 40m2 sind keine Seltenheit, auf denen oft fünf- bis sechsköpfige Familien wohnen, wie aus den qualitativen Forschungen dazu hervorgeht. Informelle Wohnformen existieren in Wien seit der Gründerzeit bis heute und sind mit Wucherpreisen und Bettengängertum im Bereich informeller Migration verknüpft (Kempf-Giefing, Rauchberger 2019, 124).

50,2% der Wienerinnen und Wiener leben in Wohnungen ohne private Freiräume wie Balkone oder Terrassen. Österreichweit sind es nur 26% laut Statistik Austria. Ab den 1960er Jahren standen einer Person durchschnittlich 22m2 Wohnraum zur Verfügung, gegenwärtig sind es mittlerweile 36m2 laut Statistik Austria, im Österreichschnitt ohne Wien sind es 47,3m2. Besonders gefordert sind dieser Tage Familien, die im sogenannten Überbelag wohnen. Von Überbelag spricht man, wenn pro Kopf weniger als 8m2 zur Verfügung stehen. Sie stehen vor der Herausforderung, die Organisation ihres Alltags (ihrer Arbeit, ihres Privatlebens, ihrer Freizeit) auf engstem Raum zu bewältigen, meist ohne Privatsphäre. In Großstädten wie Wien bilden Parks und kommunale Infrastrukturen wie Büchereien, Bäder und Naherholungsgebiete einen wichtigen Ausgleich für Wohnungsknappheit. Die Covid19 Pandemie verdeutlichte 2020, dass der Wegfall all dieser Infrastrukturen durch die Lockdowns die Situation für Menschen die auf engem Wohnraum leben verschlechterte. 

Die aktuelle Krise verdeutlicht, wie ungleich die Wohnverhältnisse sind in denen wir wohnen, das betrifft sowohl die Anzahl der Quadratmeter pro Kopf, aber auch die Ausstattung mit Freiräumen. Die Konsequenz daraus ist, dass in zukünftigen Planungen Wohnraum auch für jene leistbar gemacht werden muss, die bislang kaum Zugang zu günstigen Wohnungen hatten, insbesondere um Chancengleichheit für Kinder aus ärmeren Familien gewährleisten zu können. 2022 werden die Wohnkosten aus mehreren Gründen befeuert, zum einen werden die Baumaterialien und Produktionskosten immer teurer, da bestimmte Ressourcen immer knapper werden. Hinzu kommt die aktuelle Inflationsrate, die zu einer Teuerung der Wohnkosten um 6% führt. Um leistbares Wohnen für alle zu ermöglichen, braucht es ein Bündel an steuerlichen Regulativen, unter anderem die Wiedereinführung der zweckgebundenen Wohnbausteuer in allen Bundesländern und anderer steuerlichen Mechanismen, die von oben nach unten umverteilen, insbesondere bei Personen, die nicht länger als fünf Jahren in Österreich wohnen, gibt es massiven Aufholbedarf was die Förderung von Wohnraum betrifft. 

All diese Fragen sind virulenter denn je und fordern uns in der Frage wie wir in Zukunft gemeinsam leben, arbeiten und wohnen wollen und zeigen, dass all diese Bereiche miteinander verknüpft sind. Der Blick in die differenzieren Wohn- und Arbeitswelten im Beitrag macht sichtbar, dass wir eben nicht alle im selben Boot sitzen, sondern alle in unterschiedlicher Weise von den multiplen Krisen gefordert werden.

Quellen

Adler, Viktor, Die Lage der Ziegelarbeiter. In. Gleichheit 48, 1888.

Dlabaja, Cornelia, Das Wiener Brunnenviertel: Urbane Raumproduktion. Eine Analyse des Wandels von Stadträumen. new academic Press, 2016.

Foltin, Robert, Und wir bewegen uns noch: zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich. Mandelbaum Verlag, 2011.

Kempf-Giefing, Martina & Rauchberger, Annika, Der Alltag von Bettlerinnen in Wien – Betroffene zu Wort kommen lassen. In Kontinuitäten der Stigmatisierung von Asozialität. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2019, S. 121 – 134.

Fußnoten

1 https://www.statistik.at/web_de/presse/128000.html  Zugriff am 25.4.2022 

2 https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/international-covenant-economic-social-and-cultural-rights Zugriff am 25.4.2022

3 https://wohnberatung-wien.at/wohnberatung/soziale-wohnungsvergabe Zugriff am 16.5.2022

Cornelia Dlabajaist Soziologin und Kulturwissenschaftlerin, aktuell als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien tätig und forscht im Bereich der Stadt- und Wohnbauforschung. Sie ist Sprecherin der ÖGS Sektion Soziale Ungleichheit. Am 1.7.2022 eröffnet ihre Outdoor-Ausstellung zur Arbeits- und Migrationsgeschichte des Brunnenmarkts am Yppenplatz, die sie mit dem Wien Museum realisiert und an die dazugehörige Onlineausstellung anknüpft www.migrationsgeschichte.com