fokus

Community-Arbeit, Erinnerungspolitiken und Widerstandsstrategien

share on facebookprint/drucken
von Jaqueline Ejiji

Ohne Menschen, die sich Geschichten erzählen, gibt es keine Erinnerungen. Wir müssen uns Geschichten erzählen, um Vergangenes zu strukturieren, uns unserer eigenen Existenz zu versichern, sie in sinnvolle Bezüge zu bringen.

Ohne zu wissen, wo wir herkommen, wissen wir nicht, wohin wir gehen sollen. Dieser Allgemeinplatz hat besondere Bedeutung, wenn wir über migrantische Erfahrung sprechen. Doch in westlichen Nationen kann es schon einmal dauern, bis die Erfahrungen und Widerstandsgeschichten von sogenannten Minoritäten in öffentlichen breiten Diskussionen mitgedacht werden. Nationalstaaten lieben den Mythos des Homogenen. Ein „Wir“, das sich ganz klar gegen ein „Fremdes“ abgrenzen lässt. Doch wie gescheit ist es, in Termini von Österreicher_in vs. Nicht-Österreicher_in zu denken, in einem politischen Konstrukt, das sich als Nachfolger eines mächtigen europäischen Imperiums versteht? Ein Imperium, das zeitgenössisch schon als „Vielvölkerstaat“ gedacht wurde? Die Ideen des „Reinen“, des „Nationalen“, des „Kulturraumes“ feiern eine unsägliche Renaissance. Eine Renaissance, bei der einem_einer als minorisiert platzierter Person zeitweise Angst und Bange werden kann. „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zu Pflicht.“ Dieser Slogan, der mit der deutschen Atomkraftgegner-Bewegung 1974 Verbreitung fand, und später unter anderen dem Dramatiker Bertolt Brecht angedichtet wurde, lässt sich mühelos auf die heutige Gesellschaft anwenden. In einem Europa, das sich zur Festung hochstilisiert und hochrüstet, erlebe ich in meinem Umfeld eine Vielzahl von Aktivist_innen, die sich auflehnen, Widerworte geben und sich weigern, aus der europäischen Geschichte und Geschichtsschreibung wieder rausgedacht und -geschrieben zu werden.

Ab von der nationalen Zugehörigkeit: Wo komme ich her?

Meine Mutter ist in der Sowjetunion aufgewachsen, lebte mit mir und meinen Brüdern in Nigeria, Deutschland und England. Unsere Leben, gerade die ersten Lebensjahre von uns Kindern, waren von viel Bewegung geprägt. Räumlicher, sozialer, kultureller. In Gesprächen mit meiner Mutter erkenne ich immer wieder, dass das Erinnern eigener Geschichte ein mitunter sehr schmerzhafter Prozess ist.

Ich habe Geschichte studiert, unter Anderem, um aus der Welt um mich herum Sinn abzuleiten. Während des Studiums erkannte ich mit Erstaunen, wie sehr doch wissenschaftliche Disziplinen, gerade die Humanities, dem Projekt der Nationalisierung von Geschichte dienlich waren und sind. Und trotzdem bin ich auch dankbar für Kurse, in denen ich über Schwarze Deutsche Geschichte lernen konnte, über die Kategorien von Klasse und Geschlecht, über Machtverhältnisse und die Verwobenheit all dieser Kategorisierungen. Geschichte wird gemacht. Erinnerungspolitiken sind immer mit Machtverhältnissen verquickt. Wer und was wird finanziert, um auf lokaler, regionaler, nationaler und übernationaler Ebene zu erinnern? Woran wird dann erinnert? Wer und was wird erinnert? Von wem wird was erinnert? Und wieso wird vergessen und ausgeblendet? Scheinbar einfache Fragen, die in komplexe Gemengelagen reinfragen.

Aus meiner Erfahrung mit früherer und aktueller Archiv- und Lesearbeit weiß ich: Das Quellenmaterial zu meines Erachtens relevanten Ereignissen und Prozessen, die vergessen worden sind/an den Rand der Nichtigkeit gedrängt worden sind, sind da. Es fehlt an freiem Zugang zu Ressourcen, an politischem Willen und an systematischer Aufarbeitung, um den Folgen rassialisierter Nationalgeschichte vehement und laut an den Kragen zu gehen.

Widerstand machen: Wo bin ich?

Seit sechs Jahren lebe ich in Wien. Seit drei Jahren bin ich Teil des WE DEY Kollektivs, das neben einer Plattform für Künste von queeren Schwarzen und Künstler_innen of Color auch einen Community-Raum betrieben hat.

Eine unserer ersten Ausstellungen konzipierten wir, nachdem wir vom Pixel Legere Kollektiv angefragt worden waren. Wir wollten Widerstandsgeschichten von aktivistischen Kollektiven und Einzelpersonen of Color hier in Wien sammeln und in einem sinnstiftenden Rahmen präsentieren. Unsere eigenen Wissenslücken wollten gefüllt werden. Entstanden sind Zeitleisten und eine Sammlung von Bildern, Postern, Notizstickern, Flyern, Broschüren, Büchern. Wir haben also ein kleines Archiv in unserem Verein, dessen Pflege und weiteres Wachsen aussteht. Durch einen Fellow konnte zumindest alles in eine Datenbank eingepflegt werden. Der Traum davon, ein Archiv über wienerische/österreichische Widerstandsgeschichte von (queeren) Black and People of Color einzurichten, muss warten. Uns fehlen einfach die Ressourcen, um professionalisiert auch diesen Aspekt unserer Vereinsarbeit voranzutreiben. Uns übergebenes und bei unserer Arbeit entstandenes Material müsste konserviert werden, Raum zum Lagern bräuchten wir, Buchankäufe und Archivarbeit müssten finanziert werden, Zeitzeug_inneninterviews unter bestimmten Fragestellungen konzipiert, durchgeführt, verschriftlicht und in Bezug auf wissenschaftliche Fragestellungen ausgewertet werden. Es gibt viel Wissen, das in aktivistischen Zirkeln kursiert und das m.E. konserviert gehört. Für mich zählt die Dokumentation von marginalisiertem Wissen zu politisierten Widerstandsstrategien.

Erinnerungen machen: Wo gehe ich hin?

Erinnerung ist wandelbar. Seit 2005 wird in Russland ein neuer Nationaler Feiertag begangen. Letzte Woche war ich bei meiner Mutter in Deutschland und sie sah sich im Staatsfernsehen Übertragungen der Feierlichkeiten an. Sie war sehr gerührt. Ich fragte, was sie so anrühre. Für mich war das, was ich dort sah, etwas befremdlich. Menschen aus allen Ecken Russlands feierten in folkloristischer Aufmachung ihren ethnischen Stolz unter russischer Schirmherrschaft.

Meine Mutter hat eine spezielle Beziehung zum mächtigsten Nachfolgestaat des politischen Systems der UdSSR. Ich kann mit ihr nicht kritisch über die Politiken ihres „Heimatlandes“ sprechen. Und doch muss ich anerkennen, dass dieser Bezug auf Heimat in Deutschland für sie ein anderer ist, als für mich, die Schwarze Tochter, die sie in Deutschland aufgezogen hat. Sie wird ärgerlich, wenn sie daran denkt, dass in der Westukraine Denkmäler an die Sowjets niedergerissen werden. Der ukrainische Nationalismus ist ihr ein Graus. Für sie sind es Faschisten, die den russischen/sowjetischen Einfluss auslöschen wollen. Hinter der Wut steckt ihre Angst vor Krieg. Die Erinnerung an Faschismus wird bei meiner Mutter durch die Todeszahlen auf russischer Seite im Zweiten Weltkrieg dominiert.

Geschichte wird gemacht. Wer die Macht hat, kann entscheiden, wie sie massenwirksam erzählt wird.  

Zugehörigkeiten sind komplizierter als nationale Narrationen und rechte Politiker es uns glauben machen wollen. In Kontexten mit weißen Personen bestehe ich darauf, Schwarze Deutsche zu sein. Ich habe das Recht auf Geschichten in dieser, meiner ersten Sprache, die auch von Menschen erzählen, die wie ich aussehen. Denn es gab und gibt sie: Europäer_innen of Color. Und es gibt sie nicht erst seit gestern.

Wir müssen uns die Erinnerungen schaffen, in unseren Netzwerken gedenken, an Vorläufer_innen, an Pionier_innen erinnern. „Die Gefahr einer einzigen Geschichte“, wie sie die Literatin Chimamanda Ngozie Adichie formuliert, können wir umgehen. Hören/lesen/schreiben wir möglichst viele Geschichten aus den Leben der an den Rand der Nationen gedrängten. Menschen wollen gesehen und anerkannt werden. So schwer kann es nicht sein, respektvoll zuzuhören.

„...Widerstand ist Pflicht.“ Wir können aus der Vielzahl der Geschichten Wiens nur gestärkt in den täglichen Widerstand gegen ein Einerlei des massenhaften Erinnerns hervorgehen. Hier als Person of Color den täglichen Widrigkeiten zu begegnen, und immer wieder aufs Neue sich diesen zu stellen, ist Widerstand per se. Wir lassen uns den Platz nicht nehmen.

Jaqueline Ejijiist seit drei Jahren Teil von WE DEY e.V. WE DEY ist ein queerfeministisches Kollektiv Of Color, das eine Plattform für zeitgenössische Künste von Black und People of Color bietet. Jaqueline hat Geschichte, Deutsche Literaturwissenschaften und Politische Wissenschaften studiert. Ein besonderer Fokus ihrer Studien lag auf Schwarzer Geschichte in den Metropolen der Imperien. Derzeit arbeitet sie als Stipendiatin von Kültür Gemma! an einem Theaterprojekt. Die Ergebnisse des halbjährigen Prozesses wird sie Mitte Dezember im Chateau Rouge. http://www.chateaurouge.at/