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Räume der Erinnerung

Seit ich etwa 14 Jahre alt bin, wohne ich im 15. Wiener Gemeindebezirk, in Rudolfsheim-Fünfhaus – dem Bezirk mit dem höchsten MigrantInnen-Anteil in der Bundeshauptstadt. Lange Zeit war die Gegend – speziell "meine Ecke" in der Nähe vom Westbahnhof – eher unbeliebt bei den WienerInnen. Ihr übles Image bezog sich u.a. auf den illegalisierten Straßenstrich, der in der Vergangenheit wiederholt reaktionäre BürgerInnen-Initiativen auf den Plan rief.

Seit einigen Jahren jedoch verändert sich das Bild des Bezirkes grundlegend: Auf der bzw. rund um die äußere Mariahilferstraße wird saniert und gebaut, was das Zeug hält. Neue Lokale werden eröffnet, hippe Hostels ziehen junge Backpackers an, Büroräume entstehen, Kunstinitiativen lassen sich nieder. Der Umbau des Westbahnhofs zur „Bahnhof-City Wien West“ ist ein zentrales Element der "Bahnhofsoffensive" der ÖBB, die Aufwertung der Gegend wird von der Stadt als wichtiger "Entwicklungsimpuls" gehandelt.

Sechshauserstraße: Wo einst jüdische Geschäfte standen, findet sich heute "ethnic business"Sechshauserstraße: Wo einst jüdische Geschäfte standen, findet sich heute "ethnic business"

Graffiti-Wand beim SchwendermarktGraffiti-Wand beim Schwendermarkt

Die Gentrifizierung des historischen ArbeiterInnenbezirks bildet einen nicht uninteressanten Hintergrund für das Audioguides-Projekt, das letztes Wochenende offiziell präsentiert wurde. Denn dort, wo heute unter den Prinzipien der "Standortpolitik" Bestehendes bzw. Altes beseitigt wird, um eine ökonomische und soziale Neustrukturierung des Gebiets einzuführen, reaktiviert das Projekt "das verstummte Gedächtnis der Häuser und Straßen von Rudolfsheim-Fünfhaus", wie auf der Website der Audioguides zu lesen ist.

Audioguide auf der GoldschlagstraßeAudioguide auf der Goldschlagstraße

Zwar war mir die proletarische Geschichte des 15. Bezirks bekannt, nicht aber die starke jüdische Präsenz gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Rudolfsheim-Fünfhaus war Mittelpunkt der damals vorstädtischen jüdischen Gemeinde Wiens, mit einem jüdischen Kindergarten, dem Turnverein Makkabi XV, einer Armenausspeisung, einem Waisenhaus und weiteren Fürsorgevereinen. Das "Herz" der jüdischen Gemeinde war die Herklotzgasse, in deren unmittelbarer Nähe eine Synagoge, der Turnertempel lag. Etwas weiter, Richtung 12. Bezirk, stand die "Storchenschul", ein orthodoxes Bethaus.

Innenansicht des historischen Turnertempels. Foto: Herklotzgasse 21Innenansicht des historischen Turnertempels. Foto: Herklotzgasse 21

Die Audioguides – entstanden in Zusammenarbeit zwischen Radio ORANGE 94.0, dem Freien Radio in Wien, und der Bezirksvorstehung XV – lassen die Erinnerung an diese Räume neu aufleben: An zehn relevanten Orten im "Grätzel Herklotzgasse" und Umgebung wurden Bild- und Texttafeln angebracht. Unter den dort angegebenen Telefonnummern sind aufgezeichnete Interviews mit ZeitzeugInnen abrufbar, die die Geschichte des Schauplatzes erzählen (wahlweise in Deutsch, Englisch, Türkisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Hebräisch). Alternativ kann das Audiomaterial auch im Netz kostenlos downgeloadet und z.B. auf den ipod gespielt werden.

Café Palmhof. Foto: Herklotzgasse 21Café Palmhof. Foto: Herklotzgasse 21

Als ich Sonntag Nachmittag mit dem Rad unterwegs war, um die einzelnen Hörstationen des Projekts aufzusuchen, war ich überrascht, an wie vielen Ecken, an denen ich regelmäßig vorbeifahre oder -gehe, jüdisches Leben stattgefunden hat. Zum Beispiel der Penny-Supermarkt, gleich neben dem Westbahnhof – früher stand hier das Café Palmhof, ein Konzert-Lokal und beliebter Treffpunkt. Oder der Auer-Welsbach-Park gegenüber vom Technischen Museum, durch den ich manchmal spaziere, und wo viele jüdische Familien mit ihren Kindern die Nachmittage verbrachten. Unter den Nazis war der Zutritt des Parks für "Hunde und Juden verboten".

Im Auer Welsbach Park. Foto: Herklotzgasse 21Im Auer Welsbach Park. Foto: Herklotzgasse 21

Wo einst das jüdische Waisenhaus zu finden war, ragt jetzt ein grauer Gemeindebauklotz, ebenso wie in der Turnergasse, wo früher der Turnertempel stand. Im Zuge der Novemberprogrome 1938 wurde die Synagoge in der "Reichskristallnacht" von den Nationalsozialisten in Brand gesetzt.

Auch das Bethaus in der Storchengasse wurde zerstört und später arisiert. Wie auch an fast allen anderen Plätzen ist heute kaum mehr etwas von der jüdischen Vergangenheit zu sehen: Die Adresse der früheren "Storchenschul" ist aktuell eine Baustelle. Es ist auch diese Unsichtbarkeit, die von der Brutalität der Auslöschung jüdischen Lebens zeugt: Aus den Augen, aus dem – sich erinnernden – Sinn.

Turnergasse heute. Foto: Herklotzgasse 21Turnergasse heute. Foto: Herklotzgasse 21

Wer etwas Zeit hat, um eine Tour durch den 15. Bezirk zu machen, seien die Audioguides sehr empfohlen. Die Hörstationen zeigen, dass sich durch die Erinnerung der Blick auf die "eigene" Stadt für immer verändern kann.